Rabenbrüder
Scheiben Vollkornbrot mit Leberwurst und Quark. Mit Genugtuung stellte Annette fest, daß der Käse aus der Nostalgieserie Großmutters Kräutergarten stammte. Fast wie zu Hause, dachte sie.
Um sechs hatte sie schon alles aufgegessen, die Zähne geputzt und das Gesicht eingecremt. Gottlob hatte sie ihre Kulturtasche bereits für die Reise gefüllt, weiß der Teufel, welche Kosmetika Paul hineingepackt hätte. Ob sie ihn mal anrufen sollte? Vielleicht war er ernsthaft krank geworden. Nach einem vergeblichen Versuch, ihn zu erreichen, schlief Annette früh ein, um bereits um elf Uhr wieder wach zu werden.
Als sie zum zweiten Mal bei Paul anläutete, hatte sie wiederum keinen Erfolg. Immerhin war es möglich, daß er bereits schlief, denn Achim hatte geplant, noch heute abzureisen. Plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen: Natürlich nächtigte Paul jetzt bei Olga, die sicherlich nicht ohne ihn nach Granada geflogen war. Während sein Bruder bei ihm wohnte, hatte sich Paul wohl nicht zu seiner Geliebten davonstehlen wollen. Jetzt würde er die heißen Nächte zwar nicht in Andalusien, aber doch in Olgas Armen verbringen.
Früher hatte Annette die Privatnummer der Baumanns auswendig gewußt, aber das war schon eine Weile her. Blöderweise steckte das Adreßbüchlein in ihrer Handtasche, die Paul nicht mitgebracht hatte. Falls sich Olga bei einem anonymen Testanruf meldete - und sie war eine Nachteule und mindestens bis Mitternacht wach -, war jedenfalls bewiesen, daß sie nicht nach Spanien gereist war.
Annette zögerte, die Auskunft zu bemühen. In einem Krankenhaus mußte doch irgendwo ein Telefonbuch liegen. Als sie durch den Flur schlich, kam ihr das gesamte Gebäude unbewohnt vor, obwohl in vielen Zimmern schlaflose, schmerzgepeinigte, vielleicht sogar sterbende Patienten liegen mußten. Im Stationszimmer entdeckte sie eine menschliche Silhouette hinter der Milchglasscheibe. Wenn sie dort eintrat und ein Telefonbuch verlangte, würde man sie mit Sicherheit energisch zurück ins Bett schicken. Gedankenverloren folgte Annette den gleichen Gängen wie schon Stunden zuvor. Markus hatte den Schlüssel seines Arbeitszimmers außen steckenlassen, und die Tür ließ sich geräuschlos öffnen.
Fast automatisch knipste Annette das Licht an; die hübsche Frau im Silberrahmen lächelte ihr zu. Seltsam, daß Markus dieses Bild so offen aufstellte, schließlich war er noch nicht geschieden, und Krystyna war hier keine Unbekannte. Wahrscheinlich war der Stolz auf die junge Freundin größer als die Furcht vor Klatsch. Nachdem sich Annette vergeblich nach einem Telefonbuch umgesehen hatte, wollte sie schließlich die oberste Schreibtischschublade öffnen. Ebenso wie alle anderen war sie abgeschlossen. Ganz wohl war ihr bei ihrer hektischen Schlüsselsuche nicht. Es war schließlich nicht Pauls Schreibtisch. Als Annette plötzlich Schritte hörte, die sich leise und zielstrebig näherten, wurde ihr heiß und kalt vor Angst. Falls der
Hausmeister einen Kontrollgang machte und die Tür von außen zuschloß, war sie gefangen. Fast schlimmer wäre es, wenn man sie wie eine Diebin erwischte.
Tatsächlich bewegte sich die Klinke, und Annette konnte noch in letzter Minute hinter einen Wandschirm schlüpfen. Ein Stuhl und ein Kleiderhaken samt Bügel ersetzten die Umkleidekabine, an einem Haken hing ein Arztkittel. Mit Entsetzen bemerkte Annette, daß der Paravent nicht bis zum Boden reichte und ihre chinesischen Pantöffelchen zu sehen sein mußten. Schleunigst setzte sie sich hin und zog die Beine an. Durch einen Spalt konnte sie erkennen, daß eine Frau in einem schwarzen Regenmantel eintrat. Es war Olga.
Wenigstens kann ich mir jetzt die Suche nach dem Telefonbuch schenken, dachte die aufgeregte und völlig verblüffte Annette. Ohne Lover war Olga also nicht nach Spanien gereist, aber Paul konnte momentan auch nicht in ihren Armen liegen.
Doch was hatte sie hier bloß zu suchen?
Die eingeschaltete Lampe schien Olga nicht mißtrauisch zu machen. Als erstes nahm sie das Foto vom Tisch, setzte die Brille auf und betrachtete ihre Nachfolgerin mit zusammengezogenen Brauen. Heftiger als Annette rüttelte Olga an den Schubladengriffen, knöpfte sich aber dann den offen liegenden Terminkalender vor und sah ihn aufmerksam durch. Hin und wieder schrieb sie etwas in ein Vokabelheftchen und stieß dabei ein fast lautloses alla! aus.
Annette schickte ein Stoßgebet nach dem anderen gen Himmel. Eine aufdringliche Fliege setzte
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