Rabenbrüder
eine Ersatz-familie zu finden, aber bald bekam sie zu spüren, daß sie nur als Pauls Anhängsel galt. Sein Vater hatte zwar einen gewissen Respekt vor ihren beruflichen Erfolgen, aber er schien im großen ganzen kein Mensch zu sein, der sich über andere Leute Gedanken machte. Pauls Mutter war eifersüchtig auf Annette, was sie durch zuckersüße Komplimente und kleine Geschenke tarnen wollte. Im übrigen waren sich Pauls Eltern in einem Punkt wohl einig: Die unfreiwillige Enkellosigkeit lag einzig und allein an der karrieresüchtigen Schwiegertochter. Doch alles in allem mußten sicher viele Leute mit Verwandten auskommen, an denen es weitaus mehr auszusetzen gab. Trotzdem konnte Annette keine wirkliche Trauer über den Tod des Schwiegervaters empfinden.
Um so dankbarer war Annette, als Paul endlich anrief, schämte sich aber gleichzeitig ein wenig, daß sie tiefes Mitgefühl heuchelte. Ihr Mann sprach verstört, ja fast wirr. Dummerweise habe er gestern zwei Schlaftabletten genommen und müsse noch ein bißchen liegen, weil er sich kaum auf den Beinen halten könne. »Es wäre am besten, wenn mich jemand fahren könnte. Ob es zuviel verlangt ist, wenn ich meinen Bruder darum bitte?«
Gegen Mittag stand Achim mit einem Frühlingsstrauß vor Annettes Krankenbett.
Sie war gerührt. Wo denn Paul sei? wollte sie wissen.
»Pennt sich aus«, sagte Achim, »deswegen lasse ich ihn noch ein Weilchen in Ruhe, dann wird er aber abgeschleppt. Notfalls mit sanfter Gewalt.«
Es tat gut, ein wenig zu plaudern. Achim redete hauptsächlich über seinen Vater, jedoch ohne Larmoyanz. Schon seit zwanzig Jahren habe dieser immer wieder seinen baldigen Tod angekündigt, jetzt sei niemand sonderlich überrascht. Hoffentlich sei er friedlich eingeschlafen. »Spricht etwas dagegen?« fragte Annette.
Achim zuckte mit den Schultern.
Schließlich unterhielten sie sich über völlig andere Dinge und ertappten sich sogar bei einer gewissen Fröhlichkeit. Es wäre nett, so einen Bruder zu haben, dachte Annette. Schade, daß sie Achim so selten zu Gesicht bekam. Zum Abschied umarmte er sie herzlich, und Annette wollte ihn gar nicht wieder loslassen.
Die Frau in Weiß
Nachdem Paul seinen Bruder erreicht und herbestellt hatte, damit er ihn zur Mutter nach Mainz mitnähme, schlief er nochmals ein. Als Achims stürmisches Klingeln ihn kurz darauf weckte, rief er durchs Fenster, er brauche noch Schlaf. Etwas vorwurfsvoll nörgelte Achim, daß er selbst in aller Herrgottsfrüh habe aufstehen müssen, um auf Pauls Befehl herbeizueilen. Dann zog er ab ins Krankenhaus.
Gern wäre Paul den ganzen Tag liegengeblieben und hätte sich von einer guten Seele einen heißen Grog bereiten lassen. Dabei kam ihm eine vertraute Szene in den Sinn: Der Vater lag kränkelnd im Bett, und Mama servierte ihm ein opulentes Frühstück. Zwei Spiegeleier mußten es schon sein, das Wörtchen Cholesterin war verpönt. Ob die Mutter in all den Jahren nicht auch manchmal unpäßlich gewesen war? Wie hatte sie die Wechseljahre überstanden? In seiner Familie war die Rolle des Kranken ein für allemal besetzt, sicherlich hätte sich die Mama hin und wieder auch ganz gern bedienen lassen. Nun hatte sich das Blatt gewendet, und sie bekam von ihrem Geliebten Champagner ans Bett gebracht.
Peinlicherweise war es bereits zwölf, als Paul endlich ins Bad trottete. Unter der heißen Dusche gab sein Nacken seltsame Knirschlaute von sich, was sicherlich auf mangelnde sportliche Betätigung zurückzuführen war.
Vergeblich hatte seine Mutter versucht, die Söhne für ihre spezielle Kraftquelle zu begeistern, gelegentlich hielt sie eine missionierende Rede. Tai Chi Chuan ist eine alte chinesische Kunst, die den Menschen als Einheit von Körper und Seele anspricht. Die langsam fließenden, harmonischen Bewegungen wirken ausgleichend, entspannend und wohltuend. Sie korrigieren die Körperhaltung, stabilisieren den Kreislauf und fördern die Beweglichkeit. Für einen Augenblick bedauerte Paul, daß er nicht auf sie gehört hatte. Seine Körperhaltung, sein Kreislauf und seine Beweglichkeit verkümmerten, und momentan tat ihm eigentlich alles weh. Außerdem empfand es Paul als Zumutung, sich nach dem gestrigen Fiasko schon wieder ins Elternhaus begeben zu müssen.
Beim zweiten Mal kam Achim mit einem anderen Auto vorgefahren. »Das ist der Toyota, den ich dir anbieten könnte«, sagte er. »Du wirst sehen, wir machen Tempo.«
Doch bereits an der nächsten Baustelle war es damit
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