Rabenbrüder
sich immer wie-der auf ihre nackten Beine, der gebrochene Arm schmerzte in dieser Zwangshaltung.
Etwa zehn Minuten später war Olga mit ihren Recherchen fertig. Bevor sie das Zimmer verließ, warf sie noch einen prüfenden Blick in alle vier Ecken, hatte es aber plötzlich eilig, wieder zu verschwinden.
Lange blieb Annette regungslos hocken, bis ihr Herzklopfen nachließ. Als sie sich mühsam hochzog, fühlte sie einen harten Gegenstand in der Tasche des Arztkittels. Das mußte wohl der Schlüsselbund sein, den sie mit einem gewissen Triumph herausfischen wollte; leider war es nur ein mit Pfefferminzpastillen gefülltes Blechkästchen.
Was mochte Olga im Wochenkalender gesucht und gefunden haben? Bei aller Aufregung konnte Annette nicht umhin, ihn ebenfalls durchzublättern. Markus war nebenberuflich als Gutachter tätig, an jeweils drei Wochentagen hatte er Termine für Untersuchungen eingetragen. Aber gelegentlich waren auch private Vorhaben wie Besuche beim Zahnarzt, Steuerberater oder Frisör vermerkt, Einladungen, ein Kinobesuch. Anruf P. las sie neben der ihr wohlbekannten Telefonnummer der Anwaltskanzlei; darüber hinaus hatte sich Markus für nächste Woche mit Paul verabredet und hierfür einige Fragen notiert:
i. Eigentumswohnung, 2. Lebensversicherung, 3. Versorgungsanspruch. Auch ein rot eingetragener Tag dürfte für Olga interessant gewesen sein: Krystynas voraussichtlicher Geburtstermin.
Auf dem Rückweg wurde Annette von einer Nachtschwester angesprochen. »Wohin laafe Se denn?«
Sie habe sich anscheinend verirrt, sagte Annette errötend und wurde von der kopfschüttelnden Pflegerin bis ins Zimmer begleitet. Die Patientin sei arg wusslich und brauche eine Schlaftablette, sagte die diensteifrige Frau, und Annette nickte ergeben.
Ohne die Pille zu schlucken, wälzte sie sich ständig herum und grübelte. Es war anzunehmen, daß Markus seine Lebensversicherung zugunsten des Babys umschreiben lassen wollte. Wie sehr hatte ihr das Wort Police in Pauls E-Mail zu schaffen gemacht, weil sie bloß an ihre eigene Versicherung gedacht hatte. Daß Paul seinem Freund Markus juristische Ratschläge gab, war Annette bekannt, für Olga womöglich aber neu und sicherlich verletzend. Trieb Paul ein doppeltes Spiel? Es war eigentlich nicht seine Art zu intrigieren. Eher konnte sich Annette vorstellen, daß er unfreiwillig zwischen den Interessen von Freund und Geliebter taktieren mußte. Neulich hatte Paul, der sich selten über persönliche Dinge äußerte, von einem ekligen Traum erzählt: Er hatte eine gespaltene Zunge und konnte sich gleichzeitig den rechten und den linken Mundwinkel ablecken. Vielleicht hatte sich sein schlechtes Gewissen im Unterbewußtsein gemeldet.
Irgendwann schlief Annette doch noch ein. Sie ahnte nicht, daß Paul und Achim inzwischen ihre Mutter besucht, dort eine schockierende Entdeckung gemacht und sich anschließend mit dem erregten Vater überworfen hatten. Noch viel weniger konnte sie wissen, daß ihr Schwiegervater in dieser Nacht starb, ohne daß ein Arzt oder eine Krankenschwester zu Hilfe gekommen war.
Als sie zeitig zum Fiebermessen geweckt wurde, fühlte sich Annette ausgeschlafen und gesund. »Leider kein schönes Osterwetter«, sagte eine altkluge Praktikantin, die ihr das Frühstück brachte. Ein bunt gefärbtes Ei und eine Tulpe sollten den Patienten Festtagsfreude bereiten.
»Ich will nach Hause«, maulte Annette. Sehnsüchtig wartete sie auf Besuch.
Als das Telefon klingelte, meldete sich jedoch nicht Paul, sondern sein Bruder.
»Wie geht’s dir? Weißt du schon Bescheid?« fragte er mit sanfter Stimme.
Annette erschrak. »Was ist ihm passiert?« sagte sie tonlos.
»Er ist heute nacht gestorben«, sagte Achim leise.
Annette wurde schwarz vor den Augen. Als sie wieder zu sich kam, lag der Hörer vor ihr auf der Bettdecke. Wie aus weiter Ferne drangen Töne aus dem Telefon. »Hallo?« fragte sie unsicher.
»Um Gottes willen, Kleines«, sagte Achim, »was war los mit dir? Ich konnte doch nicht ahnen, daß es dich so trifft. Schließlich war er alt und krank.«
»Wer?« fragte sie und begriff endlich, daß es sich nicht um Paul handelte.
»Unsere Mutter braucht jetzt Beistand«, sagte Achim, »ich werde mich sofort auf den Weg zu ihr machen. Paul sitzt vielleicht schon im Zug, ich konnte ihn nicht erreichen. Deswegen nahm ich an, er sei an deiner Seite.«
Noch nie hatte Annette die Schwiegereltern sonderlich geliebt. Bei ihrer Heirat hatte sie noch gehofft,
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