Rabenbrüder
das WMF-Besteck Stockholm, mit dem er während seiner Kindheit jede Mahlzeit eingenommen hatte. Fast gerührt blickte er auf die skandinavische Emailschale aus den sechziger Jahren, auf die Stringregale mit den Inselbänd-chen, den Couchtisch aus Teakholz und die blau-grün karierten Wollgardinen. Hier war er aufgewachsen, und Annettes Urteil spießig hatte ihn gekränkt. Es gab Dinge, die Heimat vermittelten und nicht mit der Skala jeweiliger Modetrends gemessen werden konnten.
Achim brachte seinen Bruder zum Krankenhaus, mochte ihn aber nicht bis zur Leichenhalle begleiten. »Du brauchst nicht zu warten, ich nehme mir nachher ein Taxi«, sagte Paul, »danke für alles.«
Man führte ihn in einen pietätvoll ausgestatteten Raum mit gedämpfter Beleuchtung, einem Kreuz an der Wand und weißem Blumenschmuck. Auf einer Bahre lag der abgedeckte Tote. Der Krankenpfleger zog das Leinentuch ein Stück herunter und ließ Paul allein.
Die vormals rote Gesichtsfarbe seines Vaters mußte nun - wie Paul es manchmal gelesen hatte - wächsern genannt werden, und sein Ausdruck war starr, fern, nicht von dieser Welt, ja entrückt.
»Du hörst mich nicht mehr«, flüsterte Paul, »aber du wolltest mir auch zu Lebzeiten nicht zuhören. Was weiß ich von dir? Deine Unbeherrschtheit war mir fremd, aber womöglich habe ich den Hang zur Selbstbeobachtung und die Flucht in Traumwelten dir zu verdanken. Mama schenkte mir vorhin eine Zeichnung, die du in jungen Jahren angefertigt hast - interessanterweise war es ein vom Blitz gefällter Baumstamm.«
Bis der Krankenpfleger erneut erschien und ihn freundlich-professionell hinausgeleitete, blieb Paul vor seinem leblosen Vater stehen und dachte vorwiegend über sich selbst nach. Ob er in vierzig Jahren ein ganz ähnliches Bild abgab wie sein Vater auf dem Totenbett?
Als er im Taxi saß und in die Dunkelheit hinausstarrte, fühlte er sich unendlich einsam.
»Alleweil is Schluß mit lustig, die scheuche mich ja fast uffs Trottoir«, schimpfte der Fahrer, als sie bereits nah am Ziel waren. Sirenen und Blaulicht zwangen ihn dazu, scharf zu bremsen und halb auf dem Gehweg anzuhalten. Es dauerte eine ganze Weile, bis ein Konvoi von Polizeiwagen vorbeigerast war und sie wieder starten konnten.
Vor dem Elternhaus erhellte eine Leuchte die Stufen zur Haustür, aber innen war alles dunkel. Anscheinend waren Achim und die Mutter bereits schlafen gegangen. Was bin ich für ein Schwein, fuhr es Paul durch den Kopf, daß ich sogar jetzt wieder an Inzest denken muß, mit mir stimmt etwas nicht. Als er die Mansardentreppe zu seinem ehemaligen Kinderzimmer hinaufstieg, bemerkte er eine merkwürdige Verlangsamung seiner Bewegungen, seiner Gedanken und seiner Lebensuhr. Gleich bleibt mein Herz stehen, befürchtete er, bevor ihn der Schlaf übermannte.
Ostermontag war das Bestattungsunternehmen geschlossen. Dieser Punkt wurde für den nächsten Tag aufs Programm gesetzt. Morgen, Dienstag, müsse sie auch Kontakt zu einem Geistlichen aufnehmen, was ihr nicht leichtfalle, sagte die Mutter beim Frühstück. Da die Eltern den Gottesdienst ja fast nie besucht hätten, könne man sich die Heuchelei doch schenken, schlug Paul vor, aber das ließ sie auf keinen Fall gelten. »Keine Grabrede! Das wäre eurem Vater aber gar nicht recht!« rief sie entrüstet. Später machten sie einen gemeinsamen Spaziergang zum Friedhof und sahen sich fremde Ruhestätten an, um erstaunt den unterschiedlichen Geschmack der jeweiligen Epochen zu vergleichen.
»Am liebsten hätte Papa bestimmt einen Jugendstilengel«, sagte Achim, »die haben wenigstens einen anständigen Busen.«
»Kommt nicht in die Tüte«, schalt die Mutter und blieb betroffen vor dem Grab eines kleinen Mädchens stehen.
Die ungewohnte familiäre Gemeinsamkeit versetzte Paul in eine träumerische Stimmung, die allerdings immer wieder durch den starken Kaffee der Mutter vertrieben wurde. Zuweilen gelang es ihm, Achim als Bruder und nicht als Feind anzusehen. Die praktischen Fähigkeiten des Jüngeren erwiesen sich als hilfreich - Achim kochte und beförderte die Sachen des Vaters von der Klinik ins Elternhaus. Er war es auch, der dem schlappen Paul das Telefon vor die Nase stellte. »Annette traut sich vielleicht nicht, hier anzurufen, aber sie wird sicherlich ungeduldig warten!«
»Morgen werde ich wohl entlassen«, sagte sie, »könntest du zuerst meinen Saab von der Werkstatt abholen und dann mich vom Krankenhaus? Wie ist die Lage bei euch? Wann ist die
Weitere Kostenlose Bücher