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Rabenbrüder

Rabenbrüder

Titel: Rabenbrüder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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vorbei. Viele Menschen wollten die Ostertage für einen Besuch oder Kurzurlaub nutzen, und der Engpaß brachte den Verkehr zum Erliegen. Es sei schade, daß er keinen Zeichenblock mitgenommen habe, sagte Paul, die mächtigen Straßenwalzen hätten es ihm angetan. Besonders, wenn sie reglos stillständen.
    »Das darf doch nicht dein Ernst sein«, stöhnte Achim, »wir müssen uns jetzt über ganz andere Dinge den Kopf zerbrechen.«
    »Klar«, sagte Paul, »wie wir uns Mama gegenüber verhalten sollen, wann die Beerdigung ist und so weiter.«
    Als habe sie seit Stunden dort gewartet, lehnte die Mutter wie eine Statue an der Haustür. Sie umarmte ihre Söhne und wirkte gefaßt, aber gealtert. Selbst Tai Chi schien bei Schicksalsschlägen seine Wirkung zu verlieren.
    »Wie geht es Annettchen?« fragte sie höflich. »Wird sie zur Trauerfeier kommen können?«
    »Sie läßt dich herzlich grüßen«, log Paul, »bestimmt wird sie bald entlassen. Wann hast du denn diesen köstlichen Hefezopf gebacken?«
    »Schon vor Tagen«, sagte sie, »ich habe ihn nur schnell aufgetaut. Ist der Kaffee zu dünn?«
    Später formulierten sie gemeinsam den Text der Todesanzeige und stellten eine Liste der Empfänger zusammen; Achim tippte alles in seinen Laptop. Paul wurde bewußt, daß er noch nie im Leben einen Toten zu Gesicht bekommen hatte.
    »Kann ich Papa noch mal sehen?« fragte er. Und kaum hatte er seine Frage geäußert, wurde er von unbehaglicher Neugierde überwältigt.
    »Willst du das wirklich?« fragte die Mutter. »Man sollte ihn vielleicht so im Gedächtnis behalten, wie er in glücklichen Momenten ausgesehen hat. Im übrigen liegt er noch im Krankenhaus, die haben dort einen extra
    Raum ...« Unvermutet brach sie in Tränen aus, und Achim reichte ihr sein Taschentuch.
    Dann galt es, verschiedene Papiere zu sichten. Während Paul einen Ordner mit Versicherungspolicen und Rentenbescheiden durchsah, deckte Achim den Tisch ab, und die Mutter sortierte allerlei persönliche Gegenstände.
    »Jean Paul, für dich ist die goldene Taschenuhr, dein Vater hat sie zur Konfirmation bekommen. Und für Achim ist dieser Orden, ich weiß selbst nicht, wofür euer Großvater ihn erhalten hat. Wer möchte die Manschettenknöpfe?« Und so ging es eine Weile hin und her, bis Achim sich entschuldigte. Er müsse noch mal an die frische Luft.
    Inzwischen war es Abend; Paul schwankte zwischen dem Verlangen, den toten Vater zu besuchen, und der Pflicht, die Mutter nicht allein zu lassen.
    »Ach, Mama«, sagte er, »wahrscheinlich ist es unmöglich, dir in diesen Tagen eine echte Hilfe zu sein. Eigentlich können wir dir nur ein paar organisatorische Dinge abnehmen. Wie es in deinem Inneren .« Er stockte und wußte nicht mehr weiter.
    Seine Mutter lächelte. »Vielleicht hört es sich seltsam an: Ich bin zwar sehr traurig, ich fühle mich auch ein wenig schuldig - aber hauptsächlich empfinde ich eine unerhörte Erleichterung. Ich bin jetzt frei und kann aufstehen oder schlafen gehen, wann ich will. Ich kann essen, wann ich Hunger habe, ich kann verreisen, wohin ich möchte. Die Fernbedienung liegt jetzt ganz in meiner Hand. Das klingt wahrscheinlich herzlos, aber so ist es nicht gemeint. Ich habe deinen Vater geliebt und mich mehr als vierzig
    Jahre nach seinen Bedürfnissen gerichtet. Aber jetzt ...« Sie schwieg.
    Paul wußte nicht recht, was er entgegnen sollte. So oft hatte er seine Mutter nie zuvor ich sagen hören. Eigentlich fehlte nur noch: Ich kann jetzt ins Bett gehen, mit wem ich will.
    Schon bei der Vorstellung eines Bettes sehnte er sich selbst danach, allerdings ohne Annette, Olga oder sonstige Gesellschaft. »Wenn du mir Wäsche herauslegst, kann ich schon mal die Decken für Achim und mich beziehen«, bot er an; aber es war bereits alles hergerichtet, denn ein derartiges Angebot hätte die Mutter nie und nimmer von Paul erwartet.
    »Wo Achim bleibt?« fragte sie, »ob er zu seiner Freundin gefahren ist?«
    »Wie ist sie denn?« fragte Paul.
    »Darüber würde ich mir niemals ein Urteil erlauben«, sagte seine Mutter, »ihr müßt euch mit euren Partnerinnen vertragen, auf uns Eltern kommt es nicht an.«
    Keine Antwort sei auch eine Antwort, murmelte Paul.
    In diesem Moment tänzelte Achim herein, er balancierte drei Kartons auf dem linken Unterarm. »Pizza«, sagte er, »eine Margherita, eine Napoletana, einmal Calzone. Nicht direkt lukullisch, aber auch nicht von schlechten Eltern!«
    Beim Essen wurde wenig gesprochen. Paul liebte

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