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Rabenbrüder

Rabenbrüder

Titel: Rabenbrüder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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nicht lange mit dem Ausziehen plagen, sondern schlüpfte in Hose und Pullover unter das klamme blaukarierte Federbett. Vor Schwäche fielen ihr die Augen zu.
    Als sie wach wurde, stand Paul vor dem Regal und blätterte interessiert in seinen Kinderbüchern. Wieviel Uhr es sei, fragte Annette verschlafen.
    »Hier, ist das nicht ein toller Fund«, sagte Paul und hielt ihr ein zerfleddertes Exemplar unter die Nase, »diesen Band muß ich unbedingt mit heimnehmen, besser noch alle meine Lieblingsbücher.«
    »Was?« fragte Annette gähnend.
    Paul zog seine Schätze schwungvoll heraus, wobei ihn der aufwirbelnde Staub zum Niesen brachte. Er las die Titel vor: Biologie am Bach, Die Welt im Mikroskop, iooo Experimente für junge Forscher.
    Annette mußte ein wenig lächeln. »Du alter Spinner«, sagte sie. »Für deine Favoriten findet sich bestimmt ein schönes Plätzchen bei uns. Aber für mich müßt ihr noch eins suchen, denn hier oben steht ja nur ein Einzelbett.«
    »Das haben wir gerade besprochen«, sagte Paul, »du kriegst das Gästezimmer im ersten Stock, zwischen Mama und Achim.«
    »Und wenn mich dann dein Bruder heute nacht verführen will?« fragte sie.
    Paul starrte sie an. Sie solle keine blöden Witze machen, dafür habe er im Augenblick überhaupt keinen Nerv, sagte er schroff und verließ den Raum.
    Noch nie zuvor hatte Annette in Pauls Elternhaus übernachtet, weil sie bei ihren sporadischen Besuchen stets am Abend wieder nach Hause gefahren waren. In Pauls Kinderzimmer kam sie sich abgeschoben und unerwünscht vor, von Komfort und verwöhnender Pflege konnte bisher keine Rede sein. Im Dachgeschoß gab es zudem kein Bad, keine Toilette, ja nicht einmal einen Wasseranschluß. Nachdem sie das rot-gelbe Pink-Floyd-Poster zur Genüge und mit gelindem Abscheu betrachtet hatte, bekam Annette Hunger. Es war lange her, seit sie im Krankenhaus gefrühstückt hatte. Wohl oder übel mußte sie hinuntersteigen.
    Das Haus der Schwiegereltern war in den 60er Jahren gebaut worden und mochte damals als nobel gegolten haben. Irgendwann hatten sie das Bad renovieren lassen und eine freistehende Wanne in einem schmiedeeisernen Gestell angeschafft. Der WC-Sitz war mit einem imaginären Wappen verziert, auf den marokkanischen Fliesen war zu lesen: Ma salle de bain. Es war auffällig still im Haus. Annette hatte Zeit, die Kosmetika ihrer Schwiegermutter kritisch zu begutachten: edel, teuer, konservativ. Als sie sich die Hände waschen wollte, roch sie sofort die französische Nelkenseife. Ob Paul seine Mutter derart haßte, daß er ihren Duft auch an Annette nicht ertragen konnte? Oder ob er sie wie eine Madonna verehrte und jede andere Frau ihre Seife entweiht hätte? Annette war mit beiden Erklärungen nicht recht zufrieden.
    Die Schlafzimmertür stand offen. Weiße Batistgardinen, weiße Spitzenwäsche. Das Bett des Vaters war abgezogen und zeigte deutlich, daß es nur noch im Wege stand. Annette hoffte sehr, die Mutter würde nicht auf die Idee kommen, selbst ins Gästezimmer zu ziehen und das Elternschlafzimmer für Paul und Annette freizugeben. Sie mochte auf keinen Fall im Bett des Verstorbenen schlafen.
    Selbst im Erdgeschoß war es ruhig, anscheinend waren alle fortgegangen. In der Küche fand sich ein Rest Hefezopf, über den sie sich hermachte.
    Als ihr Hunger gestillt war, begab sich Annette erneut ins obere Stockwerk, um das ihr zugedachte Gästezimmer zu inspizieren. Schon auf den ersten Blick wirkte es geräumiger und heller als Pauls Mansarde, weiß der Teufel, warum man den Ältesten dorthin verbannt hatte.
    Auch Achims Zimmer war großzügig geschnitten. In einem hölzernen Blumengestell hatte sich eine ganze Herde von Plüschtieren versammelt, erstaunlicherweise war kein einziger Teddy darunter. Annette durchschaute rasch, daß es sich um afrikanische Wildtiere handelte: Löwe, Gorilla, Elefant, Nashorn und Nilpferd, Schlange, Zebra, Giraffe und Antilope. Achim kam ihr noch infantiler als Paul vor, der sich mit rührender Begeisterung auf seine Kinderbücher gestürzt hatte.
    Dann entdeckte sie den schicken Laptop und konnte ihre Neugier wieder einmal nicht zügeln. Sie wußte im Grunde viel zu wenig von Achim und fast nichts über sein Sexualleben. Als sie den Deckel anhob und starten wollte, lag ihr seine Computerwelt mit den erwarteten Liebesbriefen jedoch keineswegs zu Füßen. Annette kannte das Paßwort nicht, und wie sie sich auch mühte, alle Versuche scheiterten; bedauerlicherweise waren ihr die

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