Rabenbrüder
Annette rote Wangen und sah immer hübscher aus. Trotzdem wurde sie bald müde, denn sie war noch an den Rhythmus des Krankenhauses gewöhnt.
Ihre Schwiegermutter hatte Erbarmen, wollte sie vielleicht auch los sein, und bezog endlich das Gästebett. Annette schlummerte sofort ein und hörte nicht mehr, wann die anderen schlafen gingen.
Tief in der Nacht spürte Annette einen Körper an ihrer Seite und stöhnte vor lang entbehrter Wollust tief auf. Noch bevor sie richtig wach wurde, gewann jedoch die Selbstkontrolle wieder die Oberhand. »Nebenan schläft deine Mutter«, flüsterte sie und wollte ihre erneute Ablehnung durch eine freundschaftliche Liebkosung ausgleichen. Als sie aber einen kahl werdenden Kopf tätschelte, schrie sie gellend auf.
Paul machte die Nachttischlampe an und schaute seine Frau kopfschüttelnd an. »Dann eben nicht«, sagte er und ging.
Im Reich des Adlers
An seinem 12. Geburtstag wurde Paul in die Mansarde umquartiert. Man hatte ihm dieses eigene Reich mit allen Mitteln schmackhaft gemacht. Hoch oben unter dem Firmament, hatte die Mutter gesagt, lebe es sich adlergleich. Sie hatte seinen Erwachsenenstatus derart herausgestrichen, daß er nichts dagegen zu sagen wagte. Der Vater war nur ein einziges Mal heraufgekommen, um Paul zu warnen. Er dürfe das elektrische Heizöfchen nur an sehr kalten Tagen anstellen, sonst müsse er den verbrauchten Strom selbst bezahlen. Paul hielt sich zwar nicht daran, denn es wurde nie nachgerechnet. Er fror aber trotzdem; im Sommer dagegen konnte es unter dem Dach unerträglich heiß werden.
Erst Jahre später gestand Paul seiner Mutter, daß er damals lieber bei Achim im Kinderzimmer geblieben wäre, in unmittelbarer Nähe der Eltern. Und erst bei dieser Gelegenheit erfuhr er, daß Achim unter dem älteren Bruder gelitten habe und ihm Pauls nächtliche Vorträge nicht länger zugemutet werden sollten.
Als Knabe beschäftigte ihn zuweilen eine quälende Idee: Hatte man ihn nach oben verbannt, weil er ein Kuckucksei und gar nicht das Kind seiner Eltern war? Paul hatte seine
infantilen Ängste nicht vergessen. Jetzt, wo er über die triebhafte Seite seiner Mutter etwas besser Bescheid wußte, schien eine andere Variante besser zu passen: Der Vater hatte aus Großmut eine bereits schwangere Frau geheiratet, aber insgeheim Achim, seinen leiblichen Sohn, bevorzugt. Das war natürlich auch Unsinn, sagte sich Paul, denn seine auffällige Ähnlichkeit mit dem Papa konnte niemand leugnen.
Im Gegensatz zu heute hatte Paul früher meistens durchgeschlafen. Trotzdem wußte er noch genau, wie lästig es war, wenn er nachts doch mal aufs Klo mußte. Immer wieder hatte er versucht, ein provisorisches Pissoir zu basteln, das dank kühner Konstruktion in die Regenrinne mündete. Warum hatte er damals nicht das leerstehende Gästezimmer bekommen, dachte er mißmutig, und warum hatten seine Eltern ihr eigenes Bad mit großem Pomp renovieren lassen, aber für seine Bedürfnisse keinen Pfennig investiert. Außerdem war ihm nicht recht klar, warum sein Bruder heute auch hier schlafen wollte, denn er hatte es schließlich nicht weit bis zur eigenen Wohnung. Dann könnte Paul jetzt in Achims Bett liegen. Allein die Vorstellung, daß alle anderen die Toilette in Reichweite hatten, er aber die steile Treppe hinuntersteigen müßte, ließ Paul grollend einschlafen.
Um drei Uhr wurde er wach, konnte sich aber noch eine geringe Verzögerung abringen, um halb vier war es endgültig vorbei. Zu müde zum Fluchen, begab er sich nach unten. Als er aus dem Bad herauskam, sah er Licht unter Achims Zimmertür. Behutsam drückte Paul auf die Klin-ke, um nach dem Rechten zu sehen. Das Bett seines Bruders war leer. War Achim also doch heimgefahren?
Eine schreckliche Idee fuhr Paul plötzlich durch den schweren Kopf. Mit Schwung riß er die Tür des elterlichen Schlafzimmers auf und knipste rücksichtslos das Licht an. Zum Glück wurde seine Mutter nicht wach.
Konnte seine Horrorvision noch überboten werden? Pauls Hände zitterten, als er die Tür des Gästezimmers öffnete. Auch hier mußte er erst das Licht anmachen, um sich zu orientieren. Annette schlief fest und sah aus wie ein Unschuldslamm. Paul schaltete die Lampe wieder aus und ließ sich neben seine Frau auf das Bett plumpsen. Er fühlte sich wie gerädert.
Etwa eine Viertelstunde später ging es ihm besser, ja ziemlich gut. Olga trieb sich im Augenblick in Andalusien herum - wahrscheinlich über kurz oder lang mit einem Latin
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