Rabenbrüder
das einhändige Hochrollen von Strumpfhosen Gedanken machte.
»Schlabberpullover, Jogginghosen und Wollsocken«, meinte Achim, »du brauchst dich doch für die Autofahrt nicht fein zu machen! Bei uns zu Hause wirst du froh sein, wenn du dich schleunigst wieder hinlegen kannst.«
Er hatte recht. Annette war jetzt schon erschöpft und zerrte ungeduldig an der Kostümjacke.
»Laß mich mal machen«, sagte Achim und half ihr aus Rock, Jacke und Bluse, bis sie in Unterwäsche vor ihm stand. Sie ließ es erleichtert geschehen und hatte nichts dagegen, daß er ihr einen Kuß gab, den man so eben noch brüderlich nennen konnte. Um eine leichte Erregung zu verbergen, klapperte sie demonstrativ mit den Zähnen und verlangte unverzüglich nach Pauls dickem Norwegerpullover.
Als sie endlich zum Aufbruch bereit waren, sah Annette unversehens Blitze vor den Augen, und alles um sie herum schien sich zu drehen; schweißgebadet ließ sie sich auf das ungemachte Bett fallen. Wahrscheinlich deutete Achim ihren Schwächeanfall falsch, denn er lag sofort neben ihr, und sein zweiter Kuß war alles andere als brüderlich. Annette hatte nicht die Kraft, ihn abzuwehren.
Erst als das Entkleiden von neuem losging, kehrte ihre Energie halbwegs zurück. Mit möglichst schwesterlicher Geste strich sie ihm durchs Haar. »Hör bitte auf damit, laß uns nach Mainz fahren!« bat sie sanft. »Schließlich bin ich Pauls Frau, und du bist immerhin sein Bruder.«
Eine Weile blieb er stumm und beleidigt liegen, aber irgendwann stiegen sie wieder in den Wagen.
Nach etwa einer Viertelstunde rasanter Fahrt fragte Achim, ob Paul ihr eigentlich treu sei.
Annette spielte vorsichtshalber die Ahnungslose.
Wieder vergingen einige Minuten, bis Achim sagte: »Wenn du mir versprichst, daß du es für dich behältst ...«
Das sei Ehrensache, behauptete Annette.
»Wunderst du dich gar nicht, daß Paul zur Zeit keine Gerichtstermine hat? Während deiner Geschäftsreise wollte er nicht etwa fleißig arbeiten, sondern mit einer Nutte auf Tour gehen.«
»Hat er dir das etwa selbst erzählt?« fragte Annette mit vorgetäuschter Bestürzung.
»Mehr oder weniger«, meinte Achim, »durch euren Unfall wurde ihm der Plan allerdings vermasselt. Aber seine Dulzinea ist wohl auch ohne ihn ausgeflogen.«
Nein, wollte Annette am liebsten entgegnen, das stimme nicht, Olga sei erstens keine Nutte und zweitens kurz vor Mitternacht durchs Krankenhaus gegeistert.
Eine Weile lang dudelte nur das Radio, aber beide hörten kaum hin. Sie hätte vorhin durchaus Lust gehabt, sich mit Achim einzulassen, stellte Annette fest. Es war eine Ewigkeit her, daß Paul zuletzt mit ihr geschlafen hatte. Seit Monaten betrog er sie und brüstete sich sogar seinem Bruder gegenüber mit seiner Affäre. Sie dagegen hatte Skrupel. Hatte ihr Mann soviel Loyalität verdient?
Etwas befangen trat sie schließlich gemeinsam mit Achim ins Mainzer Haus. Die weißgewandete Mutter saß mit Paul im Wohnzimmer, ein Album lag vor ihnen.
Annette war inzwischen froh, nicht als einzige in dunklen Kleidern zu stecken, und begrüßte zuerst die Schwiegermutter, dann ihren Mann. Beiden fiel nicht weiter auf, wie leichenblaß die Rekonvaleszentin aussah.
»Schaut doch mal«, rief Paul, als hätte er eine einzigartige Entdeckung gemacht, »Papa sieht mir auf diesem Foto zum Verwechseln ähnlich!«
»Umgekehrt, Jean Paul«, korrigierte die Mutter.
»Entschuldigt bitte, ich muß mich hinlegen«, sagte Annette, »der Arzt hat mich für die nächsten vierzehn Tage krank geschrieben; die Fahrt war ein bißchen viel für mich.«
Paul hörte gar nicht hin. »Achim, kommst du mal«, sagte er und zog den Bruder mit unheilverkündender Miene ins Nebenzimmer.
Die Mutter seufzte. »Armes Annettchen, jetzt habe ich noch gar kein Zimmer für dich gerichtet. Würde es dir etwas ausmachen, wenn du vorerst mit Pauls Bett vorliebnimmst?«
Annette stieg die steile Stiege hinauf und bedauerte, nicht zu Hause geblieben zu sein. Auch ohne Pflege hätte sie sich dort wohler gefühlt.
Gleich nach dem Abitur hatte Paul das Elternhaus verlassen, sein ungeheiztes Mansardenzimmer sah wohl immer noch so aus wie damals. Ein psychedelisches Pink-Floyd-Poster an der Tür, Frank Zappa an der schrägen Wand, eine schmale Liegestatt, naturwissenschaftliche Jugendbücher. Aber auch ein altmodischer Schließkorb, ein ausrangierter Fernseher und ein vorsintflutliches Bügeleisen waren hier oben gestrandet.
Ohne Kammerzofe mochte sich Annette
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