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Rabenbrüder

Rabenbrüder

Titel: Rabenbrüder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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Beerdigung?«
    Paul wußte so schnell keine Antwort auf die vielen Fragen.
    Achim hatte zugehört und übernahm den Hörer. »Hey, Kleines! Wie geht’s dir? Leider gibt es gerade morgen noch eine Menge zu regeln, so daß Paul unabkömmlich ist. Bei den behördlichen Dingen kennt er sich besser aus als ich. Vielleicht kann ich mich aber für ein paar Stunden davonstehlen und den Krankentransport nach Mainz übernehmen.«
    Annette schwieg. Es zog sie nicht zu der Familie nach Mainz, sondern nach Hause, aber andererseits fühlte sie sich noch nicht in der Lage, dort ganz allein zu wirtschaften. Sie müsse sich die nächsten Tage schonen und viel liegen, hatte man befohlen, auf keinen Fall einkaufen, kochen und mit ihrem Gipsarm den Herrn Gemahl bedienen.
    Sie einigte sich mit Achim, daß sie sich am Dienstag noch einmal melden würde.
    Zum Schluß verlangte Annette nach der Schwiegermutter und leierte artig die üblichen Beileidsworte herunter.
    Unbeteiligt saß Paul daneben und polierte die ererbte Taschenuhr.
    Am Dienstag morgen war es Paul nicht ganz geheuer, daß sein Bruder schon früh aufbrach, um Annette zu chauffieren. War das nicht die Pflicht des Ehemanns? Doch Paul war noch angeschlagen, hatte einen Horror vor dem Autofahren und erwartete in Kürze den Vertreter des Bestattungsinstituts. Letzten Endes war er dankbar, eine Weile ganz allein mit Kaffeetasse und Zeitung am Frühstückstisch sitzen bleiben zu können. Die Mutter wollte ins Bad, ihre Haare sähen furchtbar aus.
    »Warst du nicht erst am Samstag beim Frisör?« fragte Paul und wurde rot, weil er sich wie ein listiger Kommissar vorkam.
    »So?« fragte sie. »Ja richtig, aber mir ist, als sei es hundert Jahre her.«
    Als Paul den Lokalteil der Zeitung aufschlug, fiel sein Blick auf die großformatige Abbildung eines Mannes, dem er erst kürzlich begegnet war. Oder war eine Verwechslung möglich?
    mord im mainzer Stadtteil bretzenheim
    Am Sonntag abend hatte ein Hund auf dem Gelände der Stadtgärtnerei eine Leiche aufgespürt. Falls er nicht einen eineiigen Zwillingsbruder hatte, mußte der Tote Mutters Liebhaber sein.
    Um Gottes willen, das darf sie auf keinen Fall lesen, entschied Paul und riß die Seite heraus.
    Dann erst studierte er den gesamten Text. Der Ermordete hieß Heiko Sommer und war der Inhaber eines beliebten Speiselokals. Wie der Gastronom letztendlich ums Leben gekommen sei, müsse die Obduktion ergeben, aber alles spreche für Strangulation. Es kursierten Gerüchte, daß es sich um eine Tat der Mafia handle, denn Schutzgelderpressungen seien im Gaststättengewerbe ja gang und gäbe. Allmählich dämmerte es Paul, warum ihm dieser Mann bekannt vorgekommen war. Vor längerer Zeit hatte er mit den Eltern und Annette dort gegessen, sein Vater hatte die gute Küche gepriesen und fast euphorisch beschlossen: »Hier werden wir meinen achtzigsten Geburtstag feiern.«
    Angestrengt überlegte Paul, wie man seiner Mutter diese Nachricht vorenthalten könnte. An der Zeitung war sie wohl an einem Tag wie heute nicht sonderlich interessiert, aber ganz Mainz würde sich über dieses Verbrechen entrüsten. Beim Bäcker, im Supermarkt, beim Zahnarzt würde es in den nächsten Tagen kein anderes Thema geben.
    Schließlich fielen ihm die vielen Polizeiwagen wieder ein, die an seinem Taxi vorbeigeschossen waren. Kurz zuvor war Heiko Sommer umgebracht worden.
    Gerade als er die abgetrennte Zeitungsseite unter die Tischdecke geschoben hatte, kam seine Mutter die Treppe herunter. Sie trug einen lavendelblauen Frotteeturban, war ganz in Weiß gekleidet und glich ein wenig den lasziven Friedhofsengeln. »Schwarz steht mir nicht«, erklärte sie, »ich habe niemals dunkle Kleider getragen. In China ist Weiß die Trauerfarbe, das sieht viel stilvoller aus.«
    Ob sie sich für den Bestatter hübsch gemacht hat? fragte sich Paul mißtrauisch. Aber er empfand auch Mitleid. Über kurz oder lang würde ihr zu Ohren kommen, daß nicht nur ihr Mann, sondern auch ihr Geliebter tot war.
    Ohne daß es Paul verhindern konnte und viel früher, als er erwartet hatte, wurde sie von einem korpulenten Angestellten des Beerdigungsunternehmens über die Bluttat in Kenntnis gesetzt. Nachdem alle Formalitäten besprochen waren und der Bestatter sich bereits zum Gehen anschickte, meinte er: »Es ist doch sicherlich ein Trost, daß Ihr Gatte in hohem Alter friedlich im Bett gestorben ist. Als ich heute die Zeitung aufschlug, habe ich bloß gedacht: In welchem Land leben wir denn!

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