Rabenbrüder
Lover. Was sprach dagegen, es wieder einmal mit der eigenen Frau zu versuchen? Annette fühlte sich weich und warm an und reagierte auf seine Berührung zwar schlaftrunken, aber positiv. Schließlich wurde sie munter, drehte sich herum und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Paul konnte sich nicht erklären, warum sie gleich darauf schrie.
Um sich in seinem Kämmerchen von obsessiven Vorstellungen abzulenken, wälzte Paul verschiedene Bildbände des ehemals geliebten Kinderkosmos. Aber weder Erfindungen der Frühzeit noch Tiere an Strand und Küste konnten ihn vom finsteren Grübeln abhalten. Schließlich griff er zu den Sagen des klassischen Altertums. Bereits als Jugendlicher hielt er Jupiters geile Gaunereien für besonders hinterhältig, denn der Göttervater hatte unter anderem Amphitryons Gestalt angenommen, um sich nachts bei dessen Gattin einzunisten. Angeblich ahnungslos hatte sich Alkmene dem listigen Doppelgänger hingegeben. Sollte man ihr glauben?
Selbst wenn Annette wie ein artiges kleines Mädchen im Bett zu liegen schien, so hatte sie im Gegensatz zu Alkmene vielleicht gar nicht ihren angetrauten Amphitryon, sondern von vornherein den Jupiter erwartet.
Sollte er Annette morgen fragen, warum sie diesen spitzen Schrei ausgestoßen hatte? Paul konnte sich ihre Antwort schon im voraus denken: Nicht Schreck, sondern Schmerz habe es bedeutet, weil er versehentlich an ihren gebrochenen Arm gestoßen sei.
Es war bereits halb fünf, als Paul leise Schritte im ersten Stock hörte. Kam sein Bruder jetzt erst nach Hause? Wie der Blitz sprang er aus dem Bett und stürzte fast die Stiege hinunter. Die Flurbeleuchtung brannte, das Bad war besetzt. Frierend kauerte sich Paul auf den Teppichboden und wartete angespannt.
Zwei Minuten später ging die Badezimmertür auf, und Achim trat heraus; er trug einen tadellosen schwarzen Anzug.
Die Brüder starrten sich an. »Was machst du hier auf dem Fußboden?« fragte Achim.
Und Paul sagte gleichzeitig: »Wo kommst du her? Wie siehst du überhaupt aus!«
Schließlich behauptete Paul, er habe auf das Freiwerden der Toilette gewartet.
Achim sagte: »Simon hat mir seinen Smoking ausgeliehen, übermorgen ist doch die Trauerfeier. Leider haben wir uns ein wenig festgeredet.«
Vernünftigerweise schlug er vor, daß man jetzt unverzüglich zu Bett gehen solle.
Aber Paul konnte immer noch nicht einschlafen. Heute war Mittwoch, für Freitag war die Beerdigung geplant, erst am Samstag ging es endlich nach Hause. Eigentlich müßte Olga bereits morgen wieder eintreffen. Auch sein eigener Urlaub ging bald zu Ende, schon in der nächsten Woche gab es Termine, unter anderem ein Treffen mit Markus. Für Olgas Scheidung stand der Tag längst fest; es war nur eine Frage der Zeit, wann sie von Krystynas Schwangerschaft erfahren und maßlos keifen würde. Ob er sie morgen anrufen sollte oder mußte? Schatz, hat dir Granada gefallen? Aber vielleicht hatte Olga inzwischen vom Tod seines Vaters gehört und meldete sich ihrerseits mit unaufrichtigen Beileidsworten. Paul hatte große Lust, sich allen Verpflichtungen zu entziehen und noch in dieser Nacht nach Kamtschatka auszuwandern.
»Die Jungs schlafen noch«, sagte die Mutter zu Annette, »wir müssen das Frühstück ohne männliche Gesellschaft einnehmen.«
Da sich die beiden Frauen nicht allzu viel zu sagen hatten, blätterte jede in einem Teil der Zeitung. »Da steht wieder etwas über den Mord in Bretzenheim«, sagte Annette, »soll ich mal vorlesen?«
»Ich hebe es mir für später auf«, sagte ihre Schwiegermutter. »Sag mir bloß, ob sie den Mörder schon gefaßt haben?«
»Nein«, sagte Annette, »es scheint ein kniffliger Fall zu sein. Der Tote, also Heiko Sommer, hatte einen großen Bekanntenkreis. Außerdem hohe Schulden. Kanntest du ihn?«
»Nicht eigentlich«, sagte die Mutter. »Wir waren ein paarmal in seinem Restaurant, da hat er manchmal die Gäste begrüßt.«
»Hier steht«, berichtete Annette, »daß er ein durchtrainierter, sportlicher Typ war und sein Mörder demnach das reinste Muskelpaket sein müßte. Tod durch Strangulation, das klingt ja gräßlich!«
Kaum hatte sie es gesagt, als sich Annette schämte. Kurz vor der Beerdigung hätte der sensible Achim seine Mutter niemals mit solchen Schauergeschichten unterhalten. Aber ihre Schwiegermutter nahm es gelassen auf.
»Im Fernsehen gucke ich mir zwar jeden Krimi an«, sagte sie, »aber ich schätze es weniger, wenn ein Mord vor unserer Haustür stattfindet. Nun
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