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Rabenbrüder

Rabenbrüder

Titel: Rabenbrüder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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verantwortlich gemacht. Entweder haben wir zuviel oder zuwenig geliebt, entweder vernachlässigt oder verzogen.« Zum ersten Mal nach dem Tod des Vaters ließ sie ordentlich Dampf ab.
    Paul startete den Wagen erneut und stellte das Radio ein. Auf der restlichen Strecke hatte nur noch ein lyrischer Bariton das Wort, und sie erreichten unter den Klängen eines Schubertliedes das dunkle Haus. Achims Auto stand nicht vor der Tür, Annette schien bereits im Bett zu liegen. Erstaunlicherweise schlief Paul bald ein, weil es sacht zu tröpfeln anfing. Am Freitag morgen wachte er nur mühsam auf, so tief hatte ihn die Regenmelodie eingelullt.
    Pünktlich um elf versammelten sich Familienangehörige und Gäste zu dem gemeinsamen Trauergottesdienst. In der Friedhofskapelle waren die meisten Anwesenden mit dem Deponieren tropfender Schirme beschäftigt und achteten wohl kaum auf Pauls oder Achims Smoking, auf Annettes sandfarbenen und Saskias olivgrünen Trenchcoat, auf das korrekte schwarze Kostüm von Mutter und Tante oder die durchnäßten Mäntel der übrigen Teilnehmer. Besonders viele waren ohnehin nicht gekommen.
    Während der Andacht mußte Annette mit den Tränen kämpfen. Sie erinnerte sich an die Beerdigung ihrer Eltern, wo sie zum letzten Mal den Segen eines Pfarrers vernommen hatte: Der Herr erhebe sein Angesicht auf dich und gebe dir Frieden. Als die Orgel einsetzte, war es um ihre Fassung geschehen, und sie mußte sich lautstark schneuzen. Witwe und Waisen zeigten keine Gefühlsausbrüche, nur Tante Lilo und einige andere Matronen weinten.
    Als sie schließlich am offenen Grab standen, hörte Annette zwei Frauen miteinander tuscheln. »Kannste mer noch emol verkliggern, wie de doin Ribbelkuche bäckst, ich hab des Rezept verbummbeidelt«, flüsterte die eine.
    Und die andere antwortete: »Hör alleweil uff zu pisch-bern, der Parrer guckt schun so bös ...«
    Bereits beim Begräbnis ihrer Eltern hatte Annette zu guter Letzt einen Lachanfall bekommen, jetzt war es wieder soweit. Trotz der militanten Drohgebärde ihrer Schwiegermutter, Pauls versteinerter Miene und dem ungläubigen Kopfschütteln der Tante konnte sie sich nicht mehr bremsen. Zum Glück legte Achim den Arm um ihre Schulter und führte sie aus der Schußlinie.
    Als es von weitem zu ihnen drang: Gehet hin im Frieden des Herrn!, sank sie auf eine nasse Bank und zog ein Taschentuch für die erneute Tränenflut heraus. Achim spannte den altmodischen Regenschirm des Verstorbenen auf und rieb sich ebenfalls die Augen.
    Annette fiel auf, daß seine Iris einen roten Ring hatte, wie sie es bei manchen Tauben beobachtet hatte. Fasziniert von diesem interessanten Phänomen, verdrängte sie ihre zwiespältigen Gefühle für den janusköpfigen Adonis.
    »Eigentlich weint man ja weniger um die Verstorbenen als aus Selbstmitleid«, sagte sie. »Ich wurde beim Orgelspiel an den Tod meiner Eltern und meinen damaligen Schmerz erinnert.«
    Achim rückte näher heran. »Als ich fünf war, starb unsere Oma; Paul und ich mußten zur Beerdigung mitkommen. Wir waren aber nicht sonderlich traurig, sondern empfanden die ganze Zeremonie als spannendes Kasperletheater.«
    Annette meinte entschuldigend, daß man in diesem Alter die Endgültigkeit des Todes noch nicht verstehen könne.
    »Hat dir Paul nie von der Sandkatastrophe erzählt?« fragte Achim.
    Sie verneinte. In der Familie Wilhelms werde gemauert; Paul spreche nur ganz selten von seiner Kindheit. Achim müsse ihn doch kennen. Daraufhin bekam sie eine Geschichte zu hören, die ihr noch lange nachging.
    In den Sommerferien spielte der achtjährige Achim mit seinen Freunden auf einem Baugelände. Am Wochenende waren hier keine Arbeiter anzutreffen, und die Kinder hatten entdeckt, daß man sich an einer bestimmten Stelle unter der Absperrung hindurchschlängeln konnte. Natürlich mußte es ein Geheimnis bleiben, denn es war ihnen durchaus bewußt, etwas Illegales zu tun. Von der Straße aus war das Gebiet nicht einsehbar, und das Schild:
    BETRETEN DER BAUSTELLE VERBOTEN!
    ELTERN HAFTEN FÜR IHRE KINDER
    machte das Abenteuer besonders aufregend. Die Knaben waren von einem aufgeschütteten Sandhaufen angelockt worden, in den sie abschüssige Straßen für ihre Spielzeugautos bauten. Mit großem Eifer gruben sie Tunnels und baggerten mit ihren kleinen Schaufeln immer tiefere Löcher in die nachgiebige Masse.
    Schließlich hatte Achim die Idee, eine Beerdigung zu inszenieren. Für den vierjährigen Bruder seines Freundes hoben

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