Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Rabenbrüder

Rabenbrüder

Titel: Rabenbrüder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
Vom Netzwerk:
lesen. War es möglich, daß sein verrückter kleiner Bruder seit langem sehnsüchtig auf die Erwiderung seiner Gefühle wartete? Achim pflegte Paul zuweilen mit Bruderherz anzureden, doch er hatte das immer nur für Ironie gehalten.
    Ein Vorfall aus der Kindheit fiel ihm ein. An einem heißen Ferientag durchsuchten Paul und Achim die Küche nach Limonade. Unter der Zuckerdose entdeckte Paul einen festgeklemmten Geldschein. »Davon könnten wir uns ein großes Eis kaufen«, meinte er.
    Natürlich war sein kleiner Bruder von dieser Idee sofort begeistert; unbemerkt von den Eltern setzten sie ihren Plan sogleich in die Tat um.
    Schon zwei Stunden später wurden sie von der erzürnten Mutter vorgeladen.
    »Sie wird mich lynchen«, befürchtete Paul.
    »Mich auch?« fragte sein Bruder.
    Er sei noch zu klein und zu dumm und komme bestimmt ohne Strafe davon, sagte Paul.
    Noch bevor die Mutter mit dem Verhör begann, heulte Achim schon los: Er habe das Geld doch nur gefunden und geglaubt ...
    Die Mama fackelte nicht lange, ihrem Jüngsten trotz seines zarten Alters eine Ohrfeige zu verpassen.
    Am Abend belauschte Paul seine Eltern. Sie hätte sofort gewußt, daß Achim der Dieb war, sagte die Mutter, Paul sei viel zu anständig, auch wenn er sich vielleicht als Mitwisser schuldig gemacht habe.
    »Es ist doch Ehrensache, daß man seinen Bruder nicht verrät!« behauptete der Vater.
    Hatte er sich damals bedankt? fragte sich Paul. Hatte er überhaupt begriffen, daß sich sein dummer, kleiner Bruder geopfert hatte?
    Mit schlechtem Gewissen beschloß er, einen Brief zu schreiben. Schon in den nächsten Tagen sollte Achim nicht nur ein paar herzliche, persönliche Zeilen, sondern auch ein kleines Geschenk erhalten. Der Gedanke ließ ihn nicht ruhen. Als seine angeschlagene Frau im Bett lag, begab sich Paul in den Keller, wo er einen Fundus bemerkenswerter Versandhausartikel angelegt hatte. Spinnennetze verhinderten, daß sich Annette allzu oft in sein unterirdisches Reich wagte. Die beleuchtete Lupe in Achims Auto war ein Beweis, daß auch sein Bruder derartiges Männerspielzeug zu schätzen wußte. Ob der elektrische Korkenzieher eine passende Gabe wäre? In der Küche war er nicht zu finden gewesen, hier unten leider auch nicht.
    Lange kramte Paul in seinen Schätzen, sortierte und ordnete. Als Geschenk war der Schlüsselanhänger nicht edel genug, der Autostaubsauger mit Rotationsbürste zu wertvoll. Für einen Koch kam zwar der einhändige Dosenöffner in Frage, aber momentan konnte ihn Annette besser gebrauchen. Wo zum Teufel steckte eigentlich das kabellose Thermometer mit Weckfunktion oder der Elek-troschocker, dessen bloße Existenz seine zimperliche Frau so beunruhigt hatte? Wahrscheinlich befanden sich diese und andere Gegenstände bei Markus. Für Montag war er mit seinem Freund verabredet und konnte ihn bei dieser Gelegenheit an die Rückgabe erinnern.
    Hier in Mannheim hörte sich der Regen anders an als in Mainz, denn er wurde nicht durch Blattwerk abgefedert, sondern prasselte hemmungslos auf eine morsche Gartenbank. Paul lag erst spät im Bett und dachte an seinen Vater, der seit wenigen Stunden unter der Erde lag. Neulich hatte er gelesen, daß der Friedhof einer kleinen Gemeinde durch anhaltende Niederschläge unterspült wurde und die Anwohner plötzlich Särge und Leichenteile auf ihrem Grundstück fanden. Wer sich wohl mehr gegraust hatte -die Angehörigen der Toten oder die Gartenbesitzer? Entgegen seinem eher rational geprägten Weltbild versuchte er im Halbschlaf, spirituellen Kontakt mit seinem Vater aufzunehmen, und schlief darüber ein.
    Am nächsten Morgen ging es ihm gut; merkwürdigerweise war er über Nacht nicht krank geworden. Nach dem Frühstück, bei dem er vorausschauend nur Pfefferminztee trank, bat Paul um einen Einkaufszettel. Annette brauche nicht mitzukommen, denn anschließend müsse er in die
    Kanzlei, wo alles liegengeblieben sei. Ab Montag gebe es wichtige Termine, und er müsse sich vorbereiten.
    Annette nickte resigniert. Sie war sich ziemlich sicher, daß Paul höchstens die Post vom Büro abholte. Diesen Tag hatte er mit Sicherheit für Olga reserviert. Aber sie zuckte nicht mit der Wimper und schrieb eine Liste für den Supermarkt. Bereits gegen Mittag machte Paul sich hungrig auf den Weg, etwas früh für ein Schäferstündchen, aber zeitig genug, um noch vor Ladenschluß einzukaufen.
    Annette war enttäuscht, daß die behagliche Atmosphäre vom gestrigen Abend nicht anhielt,

Weitere Kostenlose Bücher