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Rabenbrüder

Rabenbrüder

Titel: Rabenbrüder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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sie eine Kuhle aus. Stolz, an den Spielen der Großen beteiligt zu werden, ging er willig darauf ein und legte sich vertrauensvoll in das feuchte, weiche Sandbett. Statt eines Kirchenlieds sangen sie Häschen in der Grube und bestreuten den Kleinen mit Löwenzahn und Gras. Und dann kam der Moment, wo die drei Freunde immer schneller Sand auf das Kind schippten. Da sich das Opfer mit verzweifelter Kraft herausstrampeln wollte, traten sie den Hügel über ihm fest, bis sich am Ende nichts mehr regte.
    »Wie entsetzlich«, flüsterte Annette.
    »Wir begriffen nicht, was passiert war«, sagte Achim.
    »Als wir den Jungen nach kurzer Zeit wieder ausbuddelten, versuchten wir erst einmal, ihn durch Rütteln und Schütteln aufzuwecken, statt sofort einen Erwachsenen zu holen. Als endlich jemand kam, war dem Kind nicht mehr zu helfen. - Du kannst dir denken, was folgte: Ermittlungen der Polizei, Verhöre durch Kinderpsychologen, Anzeigen gegen die Eltern wegen Verletzung der Aufsichtspflicht. Die Familie meines Freundes zog fort, ich weiß nicht, wie sie mit dem Tod ihres Jüngsten fertig geworden sind. Im übrigen hat es niemanden sonderlich interessiert, wie ich das alles verarbeitet habe.«
    Erschüttert lehnte Annette ihren Kopf an Achims Brust und verharrte eine Weile in dieser Haltung. Erst beim Hochschauen bemerkte sie, daß sich die Versammlung aufgelöst hatte. »Wo sind die anderen hingegangen?« fragte sie leicht verlegen und stand auf. Gerne hätte sie Achim eingehender getröstet, wollte aber ihre Schwie-germutter nicht schon wieder durch schlechtes Benehmen verärgern.
    Auch Achim erhob sich, um den Schirm über sie zu halten. »Das Schlimmste war, daß mich meine Eltern nicht mehr liebten, und Paul lebte sowieso in seiner eigenen Welt.«
    Das bilde er sich nur ein, meinte Annette; sie habe immer gespürt, daß die ganze Familie gerade ihn .
    »Quatsch«, sagte Achim, »als zweites Kind wünschten sich meine Eltern eine Tochter, ich war von Anfang an überflüssig. Um ab und an mal ihre Aufmerksamkeit zu erringen, bin ich zum Troublemaker geworden.«
    Mit Argwohn hatte Paul beobachtet, daß Annette von seinem Bruder weggeführt wurde. Er wäre am liebsten hinterhergelaufen, hätte beide am Ärmel gepackt und hiergeblieben! gerufen, aber natürlich konnte er seine Mutter in diesen Minuten nicht allein am Grab stehenlassen. Als der Sarg schließlich mit Erde bedeckt war, mußte er Hände drücken und Beileidsbekundungen entgegennehmen, für Blumen und Anteilnahme danken. Seiner Mutter war der Gefühlsausbruch von gestern nicht mehr anzumerken, sie verhielt sich so untadelig wie der standhafte Zinnsoldat. Als man zum Parkplatz aufbrach, ließ der Regen ein wenig nach. Immer noch saßen Achim und Annette eng nebeneinander auf der Bank, von weitem sahen sie aus wie ein Liebespaar.
    Als die Nachzügler endlich im Lokal eintrafen, hatten bereits alle Gäste ihre Plätze eingenommen, und die Kellnerin nahm die Bestellungen auf. Die meisten der triefenden Trauergemeinschaft entschieden sich für ein heißes Getränk. Schließlich erhob sich ein Freund des Verstorbenen und hielt eine weinerliche Rede; auch die Mutter dankte allen, die gekommen waren. Paul fiel auf, daß ihre vormals schöne Stimme an das Krächzen einer kraftlosen Krähe erinnerte.
    Nach dem Lunch verabschiedeten sich Freunde und Bekannte. Als nur noch die Verwandten sowie Paul, Annette und Achim übrigblieben, reichte die Mutter auch ihnen die Hand und ließ durchblicken, daß sie jetzt am liebsten allein sein wollte.
    Vorn neben Achim nahm die Tante Platz, hinten im Wagen saßen Annette, Saskia und Paul. Es war ein wenig eng, aber bis zum Hotel nicht weit.
    »Wir packen jetzt unsere Koffer und nehmen dann ein Taxi zum Bahnhof«, sagte Saskia, »sehen wir uns wieder?«
    Für Paul war es fast ein magischer Moment, als sie ihm dabei in die Augen sah. »Beim Leben meiner Mutter«, versicherte er feierlich, während Annette und Achim sich nicht angesprochen fühlten.
    Auf der Fahrt nach Mannheim kuschelte sich Annette auf den Rücksitz und dachte über die letzte Woche nach. Sie hatte keine Lust, mit den beiden Männern ein Gespräch zu führen.
    Auch Paul war ziemlich still. Auf Achims Wunsch öffnete er das Handschuhfach, um saure Drops zu suchen, und entdeckte dabei eine Lupe, die beleuchtet werden konnte.
    »Starkes Teil«, sagte er anerkennend, dann schwiegen beide eine halbe Stunde lang.
    »Soll ich euch direkt zur Werkstatt bringen?« fragte Achim,

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