Rabenbrüder
Freund«, sagte er, »aber es war vor allem eure Mutter, die mir zuhörte und freundlich auf mich einging. Selbst wenn ihr beide nicht da wart, habe ich oft bei euch gegessen oder Schulaufgaben gemacht. Meine eigenen Eltern hatten wenig Geld, wenig Zeit und leider auch wenig Verständnis für die Probleme junger Menschen.«
Vorsichtig forschte Paul nach Achims vermutlichem Aufenthalt, nach seiner Freundin und seiner heimlichen Leidenschaft für Glücksspiele. Anfangs vermied Simon alle Aussagen, die ein schlechtes Licht auf Achim werfen konnten, und tat sich schwer mit präzisen Antworten. Aber da er Pauls Sorgen für gerechtfertigt hielt, überwand er allmählich seine Hemmungen.
Sein Bruder hatte wohl keine feste Partnerin, von einer Gina wußte Simon nichts. Es habe sich verhängnisvoll ausgewirkt, als Achim vor einigen Jahren Heiko Sommer kennenlernte. Er wurde unzuverlässig, log noch mehr als bisher, veränderte sich auch sonst zu seinen Ungunsten und zeigte kaum mehr Interesse an seinen früheren Kumpanen. Ohne mit seinem Schulfreund mehr als einen Gruß zu wechseln, hatte Simon ihn aber regelmäßig im Wiesbadener Casino beobachten können.
»Ich arbeite als Croupier und fühle mich ein wenig schuldig, weil ich Achim bei einem harmlosen TouristenSchnupperkurs dort eingeführt habe. Ob er oder Heiko damit anfing, dem anderen Geld zu leihen, kann ich wirklich nicht sagen, aber anscheinend gab es da ein ständiges Hin und Her. Ein Kollege hat mir im Vertrauen alles berichtet, was ich selbst nicht mitbekommen konnte.«
»Ging es um größere Beträge?« fragte Paul.
»Beide haben um relativ hohe Summen gespielt: immer gleich der höchste Einsatz auf Plein, also auf die volle Zahl. Bis drei Uhr morgens waren sie dabei, und unter I000 Euro lief bei denen nichts. Es hat mich irgendwie beunruhigt, und ich habe sogar überlegt, ob ich euren Eltern einen Brief schreiben sollte. Auf mich hat dein Bruder ja nicht mehr gehört.«
Simon seufzte und leerte einen vollen Aschenbecher aus. »Als ich ihm einmal Vorhaltungen machte, sagte Achim ganz locker, er sei doch in bester Gesellschaft. Hier in Wiesbaden habe sogar Fjodor Dostojewskij seine Tantiemen verspielt.«
Was für ein Mensch dieser Heiko Sommer eigentlich gewesen sei, fragte Paul.
Sommer hätte große Erfolge als Koch gehabt und in Achim einen begabten Schüler entdeckt. Im Gegensatz zu seinem Schützling habe er jedoch Probleme mit dem Gewicht bekommen und deswegen regelmäßig ein Fitneßcenter besucht. »Wenn ihm jemand komisch kam, soll er manchmal handgreiflich geworden sein; aber mit einem solchen Muskelpaket wollten sich selbst Raufbolde nur ungern anlegen. Was mir nicht an ihm gefiel, war seine Großkotzigkeit. Mich behandelte er immer von oben herab. Deswegen weine ich ihm auch keine Träne nach«, sagte Simon.
Aber wo zum Teufel mochte sich Achim zur Zeit herumtreiben?
Nach längerem Überlegen meinte Simon, daß er eventuell in Baden-Baden am Spieltisch sitze, denn er habe ihn seit Tagen nicht mehr in Wiesbaden gesichtet.
Beim Abschied fragte Simon nach dem Beerdigungstermin, weil er Pauls Mutter auf jeden Fall die letzte Ehre erweisen wollte.
Davon wird sie auch nicht wieder lebendig, dachte Paul niedergeschlagen, als er durch unbelebte Straßen nach Hause wanderte. Leider hatte er nicht gefragt, ob sein Bruder außer Roulette auch Black Jack oder Poker spielte. Es war immerhin denkbar, daß Achim und Heiko ein vermeintlich sicheres System entwickelt hatten, das nur mit hohen Einsätzen funktionierte. Paul hatte sich noch nie für die Welt des Glücksspiels interessiert. Er kannte sie nur aus verstaubten Russenromanen, in denen die Protagonisten in einer einzigen Nacht Haus und Hof verspielten und in einen Zustand der Raserei und hoffnungslosen Verzweiflung gerieten.
Heftiges Fahrradklingeln riß ihn unversehens aus seinen Gedanken. Ein junger Vater unternahm mit zwei kleinen Söhnen, die noch etwas unbeholfen im Sattel saßen, eine Radtour. Er war in Pauls Alter. Paul selbst hätte ja auch längst schulpflichtige Kinder haben können. Sicher wäre ein Enkelkind für seine Mutter ein großes Glück gewesen, aber sie war zu diskret, um solche Wünsche zu äußern. Sollte er ihr postum noch diese Freude machen? Von
Achims Seite war ja momentan keine Familiengründung zu erwarten.
Die Radfahrer sorgten zum zweiten Mal für Ablenkung. Der kleinere Junge hatte - ob mit oder ohne Vorsatz war schwer zu beurteilen - den Hinterreifen des Bruders
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