Rabenbrüder
Mein lieber
Scholli, wen willst du denn so brutal ins Jenseits befördern? Fragen Sie lieber Ihren Arzt oder Apotheker, der kennt elegantere Methoden!«
»War eine rein theoretische Überlegung«, sagte Paul. »Kann ein Gerichtsmediziner eigentlich feststellen, ob der Tote schon vor der Strangulation bewußtlos war?«
»Weiß ich nicht so genau«, sagte Markus, »ist mir auch zu heavy, ich bin schließlich kein Pathologe. Aber wenn ich es recht bedenke, kann man rein äußerlich kaum erkennen, ob da vorher ein Elektroschocker im Spiel war. Vielleicht ein geröteter Punkt? Du liest zu viele Krimis, Junge. Wechseln wir lieber das Thema: Unser Kind kommt wohl schon ein paar Tage früher zur Welt; was sagst du nun?«
Paul murmelte mühsam: »Prächtig, prächtig!« und brach das Gespräch ab. Man sah sich ja demnächst.
Immer wieder fragte sich Paul, ob seine Gedankengänge absurd waren. Er war sich fast sicher, daß Achim den Löwenanteil der mütterlichen Schenkung, die eigentlich für die Toyota-Filiale gedacht war, bereits verspielt hatte und in Bedrängnis geraten war. Sein Bruder hätte beim Besuch in Mannheim genug Zeit gehabt, sich im ganzen Haus umzusehen. Möglicherweise hatte ihn Pauls Kellerarsenal sogar auf eine Idee gebracht, und er hatte den Elektroschocker kurzerhand eingesackt. Es mußte wohl Pauls eigene Waffe gewesen sein, die Achim später im Badezimmer seiner Eltern versteckte.
Eigentlich konnte man davon ausgehen, daß der Restaurantbesitzer ein Schweigegeld für seine schauspielerische Leistung verlangt hatte. Vielleicht wollte sein Bruder, der seine Schulden nicht bezahlen konnte, sich anfangs nur gegen die erwarteten Prügel des übermächtigen Gegners verteidigen. Als Heiko bei einem Treffen in einsamer Gegend durch den Stromstoß bewußtlos wurde, griff Achim die Gelegenheit beim Hals und erwürgte seinen Erpresser.
Fast war es für Paul ein Trost, daß seine Mutter die Wahrheit nie mehr erfahren würde. Achim hätte niemals einen größeren Geldbetrag in die Finger bekommen dürfen. Aber konnte sie ahnen, daß ihr Hätschelkind damit eine Sucht befriedigte, die fast so unheilvoll und schädlich war wie Drogenkonsum?
Erneut nahm er sich Karins Briefe vor und las einen nach dem anderen, um tiefer in die Geheimnisse seiner Familie einzudringen. Nur durch das Schreiben dieser unbekannten Frau erfuhr Paul, warum man ihn mit zwölf Jahren in die Mansarde abgeschoben hatte. Sein Bruder durchlebte damals eine Phase quälender Träume und litt Todesangst, unter einem Sandberg begraben zu werden. Wenn er laut weinend aufwachte, wollte er zur Mutter ins Bett schlüpfen, was aber der Vater anscheinend nicht duldete. Um den ehelichen Frieden nicht zu gefährden, verbrachte sie so manche Nacht bei ihrem kleinen Sohn im Kinderzimmer. In jener Zeit entschied sie, daß auch Paul nicht unentwegt gestört werden durfte.
Nur ein einziger von Karins Briefen steckte in einem Umschlag, den man sorgfältig wieder zugeklebt hatte. Paul öffnete ihn mit schlechtem Gewissen.
Liebste Helene, ich bin sehr bestürzt über Deine Worte. Es tut mir natürlich über alle Maßen leid, daß Du Dein
Baby verloren hast, aber bedenke einmal, wie viele Embryos in den ersten Wochen absterben, ohne daß man einen Grund dafür findet. Und umgekehrt kann trotz schwerer psychischer oder körperlicher Verletzung der Mutter ein gesundes Kind geboren werden.
Sosehr ich mich in Deinen Schmerz einfühlen kann, so wenig verstehe ich Deine Anklage. Natürlich war dieser schreckliche Unfall ein Schock für Euch alle, aber Achim ist viel zu klein, um die Folgen seiner Tat zu begreifen. Auf keinen Fall darfst Du ihm die Schuld für den Tod des kleinen Jungen geben und noch viel weniger für die erlittene Fehlgeburt. Und nimm es mir bitte nicht übel, aber Du hättest gar nicht erst erfahren dürfen, daß es diesmal die ersehnte Tochter geworden wäre.
Mein Gott, was hatten wir für seltsame Eltern, dachte Paul. Es war doch die natürlichste Sache der Welt, seine Kinder auf die Geburt eines Bruders oder einer Schwester vorzubereiten. Warum hatte er keine Ahnung von der Schwangerschaft seiner Mutter gehabt? Und auch keine Erinnerung an ihre Bettlägerigkeit und Trauer? Bloß der Tod eines fremden Kindes, das in einem Sandhaufen erstickte, war ihm unvergeßlich geblieben. Seine ganze Familie wurde damals bis ins Mark erschüttert.
Tot ist tot
Annette wurde durch Klagelaute aus dem Schlaf gerissen. Da Paul zu leiden schien, versuchte
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