Rabenbrüder
gerammt und ihn dadurch zu Fall gebracht; nun lagen beide am Boden und plärrten. Besorgt wendete der vorausfahrende Vater, richtete Kinder und Räder wieder auf, tröstete, schalt und wischte mit seinem Taschentuch über blutige Schrammen.
»Wenn ich dich noch einmal erwische«, drohte er seinem jüngeren Sohn, »dann werde ich andere Saiten aufziehen!«
Also hatte es der kleine Lauser absichtlich gemacht, dachte Paul, und mit einem Mal fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Sein eigener Bruder war auch nicht der naive Musterknabe, den er gerade hervorkehrte, sondern ein Zocker und Schurke. Warum war Paul nur so blind und vernagelt gewesen und hatte seiner schöngeistigen Mutter zugetraut, sich mit einem Typ wie Heiko Sommer einzulassen?
Es war alles ein abgekartetes Spiel gewesen: Achim und Heiko hatten ihn an der Nase herumgeführt. Schritt für Schritt rekonstruierte Paul die Hinterhältigkeit und Infamie seines Bruders, der offenbar genau gewußt hatte, wann die Mutter beim Frisör war. Während Paul am Frankfurter Flughafen seinen Koffer abholte, hatte Achim per Handy seinen Freund Heiko ins Elternhaus bestellt, um Paul dort eine zuvor vereinbarte Szene vorzuspielen. Der Ersatzschlüssel lag im Versteck, so daß Heiko Sommer mühelos eintreten konnte. Im nachhinein ertappte Paul den Bruder sogar bei einer weiteren Lüge. Achim hatte auf der Fahrt nach Mainz behauptet, sein Handy sei nicht aufgeladen und er könne deswegen die Mutter nicht erreichen. Später hatte Paul das Gerät seines Bruders im Kofferraum entdeckt und für das eigene gehalten. Als er die Speichertaste drückte, hatte das Handy sehr wohl funktioniert.
Doch warum trieb sein Bruder ein derart falsches Spiel? Cui bono? Nun, erstens hatte er tatsächlich erreicht, daß sich Paul von der Mutter distanzierte; zweitens hätten sich die Eltern hoffnungslos untereinander zerstritten. Drittens hatte Achims Wutausbruch letzten Endes den Tod des Vaters herbeigeführt, wodurch ein Teil der Erbschaft fällig wurde. Aber konnte sein Bruder mit solchen Folgen rechnen? Hätte seine Intrige nicht auffliegen können? Wahrscheinlich liebte eine Spielernatur den Nervenkitzel eines hohen Risikos.
Inzwischen war Paul vor der Haustür angekommen und hörte bereits von draußen das permanente Läuten des Telefons. Wie sollte er reagieren, wenn es sein Bruder war? Bis jetzt hatte Paul kaum über seine eigene Verantwortung nachgedacht und wußte noch nicht, wie er vorgehen sollte oder mußte.
Es war Annette. Nein, Achim habe sich nicht gemeldet. Wie es in Mainz so gehe?
Den Umständen entsprechend, murmelte Paul, sie müsse sich aber keine Sorgen machen.
Dann setzte er sich an den Schreibtisch der Eltern. Links befanden sich die Schubladen der Mutter, rechts die des Vaters, die Paul bei der Sichtung der hinterlassenen Papiere erst kürzlich durchsucht hatte. Seine Mama hatte in loser Ordnung allerlei Sammelnswertes angehäuft: gebündelte Briefe, Babyfotos, getrocknete Kleeblätter, Zeitungsartikel. Paul wußte nicht genau, was er unter all diesen Andenken eigentlich suchte. Eine der vier Schubladen war mit Souvenirs gefüllt - Schneckenhäuser und Muscheln aus dem Süden, Streichholzschachteln aus Metropolen, ein Aschenbecher aus einem italienischen Restaurant. Nie mehr würde er etwas über die Bedeutung dieser Gegenstände erfahren. Schließlich entdeckte er einen Schlüsselbund. Die Auto- und Hausschlüssel hingen stets in der Garderobe, diese hier wurden wohl seltener benutzt, gehörten offenbar zu Gartenpforte und Garage, die nur bei längerer Abwesenheit verschlossen wurden.
Ein ziemlich kleiner Schlüssel schien eher zu einer Kassette zu passen, und Paul erinnerte sich, daß ihm neulich bei der Kleiderprobe eine Schatulle aufgefallen war. Als er im elterlichen Schrank nachschauen ging, war das Kästchen unverschlossen und leer. Ob sich sein Bruder bereits bedient hatte?
Unzufrieden begab sich Paul zurück an den Schreibtisch und nahm sich die Briefe vor. Die vielen Päckchen wurden von mürben Gummibändern zusammengehalten und stammten von einer Schulfreundin der Mutter, die seit vielen Jahren in Holland lebte. Sie waren alle mit grüner Tinte geschrieben, begannen mit Liebste Helene und endeten mit Herzlich Deine Karin. Anscheinend hatten sie in jungen Jahren häufig miteinander korrespondiert, waren aber mit der Zeit mehr und mehr zum Telefonieren überge-gangen. Mit gerunzelter Stirn überflog Paul Berichte über Menschen, Orte und Bücher, die er
Weitere Kostenlose Bücher