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Rabenbrüder

Rabenbrüder

Titel: Rabenbrüder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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nicht kannte und die ihn wenig interessierten. Gelegentlich tauchte der eigene Name auf - schön, daß Paul so gern liest, unser Max blättert höchstens in Comics. Auf einmal entdeckte Paul aber einen Satz, der ihm Rätsel aufgab: Es tut mir so leid für Euch, daß man einen früh kindlichen Hirnschaden nicht ganz ausschließen konnte. Aber eine leichte Fehlentwicklung hat in Achims Alter noch gar nichts zu bedeuten.
    Ein plötzlicher Schmerz schoß ihm wie ein Stich ins Herz. Paul faßte sich an die Brust und beschloß, jetzt lieber heimzufahren, um gegebenenfalls im eigenen Bett zu sterben. Die Briefe wollte er mitnehmen und sich Abend für Abend darin vertiefen; vielleicht würde er ja noch auf weitere Überraschungen stoßen. Ob Achim in jenen Wochen, in denen er das Elternhaus bewachte, diese Diagnose ebenfalls gelesen hatte? Es war leider zu vermuten.
    Annette schien auf seinen Anruf gewartet zu haben.
    »Fahr vorsichtig«, bat sie.
    Bei Pauls Ankunft umarmten sie sich kurz. Der Tisch war wie immer ohne Aufwand gedeckt, aber ausnahmsweise gab es keinen Quark, sondern einen Gemüseauflauf. Paul vermutete, daß Annette die Zubereitung nicht leichtgefallen war. Es duftete zwar anregend nach Thymian, aber es war nicht zu erwarten, daß ihr Werk mit Achims oder Olgas Kochkunst konkurrieren konnte. Auf dem Tisch stand auch eine Flasche Wein, den sie nicht öffnen konnte. Alles war gut gemeint, aber eigentlich gab es nichts zu feiern. Obwohl er wußte, wie sinnlos es war, fragte Paul: »Immer noch keine Nachricht?«
    Sie schüttelte den Kopf. Zwar habe sie wiederholt versucht, den Vermißten zu erreichen, aber in Achims Wohnung sei kein Anrufbeantworter angeschlossen, und das Handy habe er anscheinend ausgestellt. »Man könnte vielleicht eine Radio-Suchmeldung starten«, schlug sie vor und trank ein Schlückchen. »Ich nehme an, daß er weiterhin mit dem BMW deiner Mutter unterwegs ist, das Kennzeichen habe ich mir allerdings nicht gemerkt. Weißt du übrigens, daß Achim Taubenaugen hat?«
    Paul hatte sich soeben an der heißen Form verbrannt und preßte den schmerzenden Finger ans Ohrläppchen. Verständnislos starrte er Annette an.
    Die Pupille sei natürlich schwarz, erläuterte sie, aber um die Iris herum sehe man einen roten Rand, genau wie bei den Bahnhofstauben.
    »Wahrscheinlich hatte er gerade gekifft«, meinte Paul.
    »Aber der Vergleich mit den Tauben gefällt mir: die Ratten der Lüfte, aggressiv, rücksichtslos, aufdringlich. Dabei werden sie von ahnungslosen Malern als Friedenssymbole verwendet.«
    Annette wollte widersprechen, hielt aber lieber den Mund; Pauls Urteil erschien ihr derart hart und ungerecht, daß es bloß auf einen Streit hinauslief. Sie verließ den Eßplatz und legte eine ihrer alten Schallplatten auf.
    Mit wachsender Verdrossenheit hörte Paul: Manche Trän’ aus meinen Augen ist gefallen in den Schnee!
    Ebenso wie Annette hätte er seinen Unmut um ein Haar laut geäußert, statt dessen begab er sich wortlos ins Ar-beitszimmer. Eine kleine Weile genoß er dort das Gefühl, nicht verstanden und durch Musik, die er seiner Mama zuordnete, gequält zu werden. Dann rief er Markus an.
    Mit kurzen Worten informierte ihn Paul über den Tod seiner Mutter und deutete an, daß er demnächst vielleicht die eine oder andere medizinische Frage habe.
    Der Arzt bekundete sein Mitgefühl. »Kann ich irgend etwas für euch tun? Und soll es trotzdem bei dem Termin morgen bleiben?« fragte er.
    Ja natürlich, meinte Paul, es sei sogar gut, wenn er auf andere Gedanken komme. »Übrigens fällt mir noch etwas ein«, sagte er, »hattest du dir nicht meinen elektrischen Korkenzieher ausgeliehen?«
    »Gut, daß du mich daran erinnerst«, sagte Markus, »den hätte ich glatt vergessen! Ich bring’ ihn dir morgen mit.«
    »Weißt du, ob sonst noch etwas bei dir herumliegt, was eigentlich mir ...?« fragte Paul.
    Markus ließ ihn einen Moment warten, um nachzuschauen. Beschämt gestand er, daß er auch einen tragbaren Alkoholtester geborgt und nicht zurückgegeben habe.
    »Und vielleicht einen Elektroschocker?« fragte Paul.
    Markus verneinte entschieden, ein solches Gerät würde er nie im Leben anrühren.
    »Sag mal«, sagte Paul, dem eine neue Idee durch den Kopf ging, »meinst du, man könnte einen kräftigen Mann mit einem Elektroschocker außer Gefecht setzen und dann in bewußtlosem Zustand erdrosseln?«
    Markus nahm die Frage offenbar nicht besonders ernst: »Kompliment, das würde astrein hinhauen!

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