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Rabenbrüder

Rabenbrüder

Titel: Rabenbrüder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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sie, ihn behutsam zu wecken.
    Wie im Märchen sei die Mutter hereingeschwebt und habe gefragt: Was macht mein Kind, was macht mein Reh? sagte Paul und hatte Mühe, richtig wach zu werden.
    Mitleidig rutschte sie näher, nahm seine Hand und sprach leise und freundliche Trostworte.
    Paul schlief zwar wieder ein, aber zwei Stunden später hörte sie ihn erneut vor sich hin brabbeln. »Sie ist nicht tot«, sagte er, »gerade hat mir Markus mitgeteilt, daß es ein Irrtum war. Mama lebt!«
    Aus eigener Erfahrung wußte Annette, daß sich sein Traum in verschiedenen Varianten noch häufig wiederholen würde. Zuweilen träumte sie heute noch von Vater oder Mutter, manchmal bat sie fast kindlich ihre toten Eltern um Rat und Hilfe und hatte stets das Gefühl, gehört zu werden.
    Am Morgen fühlte sich Paul müde und zerschlagen. Gab es überhaupt eine Möglichkeit, dem dunklen Schatten seiner Familie zu entrinnen? Wahrscheinlich saßen ihm Vater und Mutter, ob tot oder lebendig, sein ganzes Leben lang im Nacken, vom Bruder ganz zu schweigen. Im
    Gegensatz zu ihm selbst war Achim bereits als Achtjähriger von Alpträumen geplagt worden; Paul hatte ihn nie gefragt, wann es damit ein Ende gehabt habe.
    Beim Frühstück versuchte er, keine aktuellen Probleme anzusprechen und sich möglichst normal mit Annette zu unterhalten. »In meinem Elternhaus hört man den Regen auf den Efeu tropfen, und es gibt nichts, was mich sanfter in den Schlaf wiegt. Könntest du unser Haus nicht auch bewachsen lassen?«
    »Man kann die kleinste Hütte begrünen«, antwortete Annette, »aber bei uns kommt es leider nicht in Frage!«
    Paul bemerkte zu spät, daß er sich allzu fordernd ausgedrückt hatte. »Es war nicht so gemeint, daß ich es dir aufbuckeln wollte«, korrigierte er sich, »ich würde eigenhändig wilden Wein oder Efeu pflanzen und im Herbst die abgefallenen Blätter zusammenkehren.«
    Nun ging Annette erst auf, daß er sie mißverstanden hatte. »Spinnen!« erklärte sie. »Ich ekle mich doch vor acht Beinen.«
    Nach einer zweiten Tasse Tee brachte Paul erst Annette zum Arzt, dann seine schwarze Robe zur Reinigung; die Ellbogen glänzten, der Satinbesatz war mit Flecken übersät. Noch nie hatte er sich in diesem schlecht sitzenden Kaftan wohl gefühlt. Ungern fuhr er schließlich in die Kanzlei, wo er gegen Mittag mit Markus verabredet war. Sein Büro lag zwar noch innerhalb der Quadrate Mannheims - in der sogenannten Filsbach -, war aber im zweiten Stock, ohne Aufzug. Man konnte schwerlich von einer Toplage sprechen, leider war die Miete trotzdem hoch.
    Sowohl den Inhaber des Dönerladens im Erdgeschoß als auch dessen Kunden hatte Paul schon beraten und im Gegenzug manch leckeren Happen bei Gürkan verzehrt. Im Flur standen wie immer drei Fahrräder, die dort nicht hingehörten; die senfgelben Wände des Treppenhauses waren von der kleinen Hülya in guter Absicht mit violetten Batman-Stickern, Katzenfotos und Aufklebern des Fußballvereins Galatasaray dekoriert worden.
    Etwas kurzatmig betrat Paul nach 42 Treppenstufen seine Arbeitsstelle. Wie erwartet, hatte sich lästige Post angesammelt, und sein Partner begrüßte ihn ohne die geringste Anteilnahme. »Echt? Beide Eltern?« fragte er und wienerte seine Schuhe mit Spucke. »Da kann man nichts machen. Tot ist tot.« Schon oft hatte Annette moniert, daß Paul durch seinen Beruf mit Krethi und Plethi Umgang hatte, aber sein zynischer Kollege übertraf jeden Kleinkriminellen an ungehobelter Grobheit.
    Beim Öffnen der Briefe fing der Ärger erst richtig an. Die Pflichtverteidigung eines betrunkenen Autofahrers, der bereits einschlägig vorbestraft war, würde ihn Zeit und Nerven kosten, er kannte den Mann und konnte ihn nicht ausstehen; sein türkischer Änderungsschneider erinnerte ihn höflich an eine unbeglichene Rechnung für fünf Hosen, die Paul zu eng geworden waren. Das müßte eigentlich Olga bezahlen, dachte er und beschloß, ab heute endlich abzunehmen.
    In diesem Augenblick kam sein Partner aus dem Nebenzimmer und legte ihm wortlos eine eingewickelte Morgengabe auf den Tisch.
    »Was ist da drin?« fragte Paul mißtrauisch.
    »Reines Nervenfutter: Baklava, Helva und Tulumba Tatlisi«, sagte der Menschenfreund.
    Paul traf den Fliehenden mit einem in Zuckersirup getränkten Spritzkuchen noch so eben am rechten Bein.
    Dann las er das Angebot eines Reisebüros; einen Segeltörn zwischen Mahe, Praslin und La Digue konnte er sich nun vielleicht leisten, aber gab es auf den

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