Rabenflüstern (German Edition)
nach!«, forderte sie streng. »Deine Kenntnis von uns beweist, dass es schon immer Wege zwischen den Welten gab. Nun stelle dir vor, es gäbe jemanden, der nicht nur einen oder zwei hinüberbringen könnte, sondern ganze Legionen.«
»Niedswar«, spie der Krieger aus.
»Genau. Ich bin eine Fürstin unter den Meinen. Unser Futter«, sie sprach das Wort in einer Weise, die keinen Raum für Interpretationen bot, »geht zur Neige. Er hat uns ein ganzes Land für deinen Kopf versprochen. Land, das mein Volk braucht, um zu überleben. Du siehst, es war nicht Hass, der uns trieb, sondern das Wohlergehen meiner Untertanen.«Kraeh hatte sich mittlerweile auf den kalten Boden neben sie gesetzt, und sann über das Gesagte nach.
»Tut mir leid um deine Gefährtin«, sagte er nach einer Weile.
Darauf lachte sie kurz auf und entblößte dabei ihre zu lang geratenen spitzen Eckzähne.
»Sie war meine Schwester«, erklärte sie, wobei ihre Stimme unvermittelt in Bitternis umschlug. Doch so plötzlich der Gefühlsausbruch gekommen war, verschwand er wieder. Nüchtern erklärte sie: »Die Tore stehen nun weit offen. Es gibt weit mehr als nur deine und meine Welt. Völker wie meines, die sich auf kurz oder lang selbst zerstören, drängen in diese Welt, die Sanduhr noch einmal umzudrehen. Irgendwann aber wird auch diese Erde erschöpft sein, dann müssen wir weiterziehen und eine andere erobern. Niedswar ist der Schlüssel jenes Nomadentums. Er allein hat die Macht, die Tore aufzusperren.«
»Dient er nicht auch einem Gott?«, warf Kraeh ein, auf eine Lücke oder Schwäche in dieser vorgetragenen Abfolge von Unausweichlichkeiten hoffend.
Erneut zeigten ihre blässlichen Züge ein Schmunzeln.
»In der Tat. Aber er hat ihn verraten und verweigert ihm den Einzug …«
»Was ist daran komisch?«, hakte Kraeh unverständig nach. Sein Hintern verlor zunehmend an Gefühl.
»Du bist zu engstirnig. Auch das ist nur ein Spiel. Niedswar ist ein Priester. Und was wäre ein Priester ohne seinen Gott. Nein. Gerade auf diese Art dient er ihm am besten. Er lebt sein Beispiel und verschafft ihm damit womöglich mehr Macht, als seine körperliche Manifestation ihm einbringen würde.«
Unbehaglich rutschte der Krieger hin und her.
»Vielleicht bin ich wirklich zu dumm. Ich verstehe nicht einmal deinen Grund, mir zu helfen …«
»Das tue ich nicht«, fiel Wintar ihm ins Wort. »Dein Krieg, euer Krieg, war verloren, bevor ihr ihn begonnen habt. Das Schicksal steht gegen euch.«
Einmal mehr überkam den Krieger ein wilder Gedanke und er musste an sich halten, ihn nicht auszusprechen. Stattdessen fragte er, einer unwillkürlichen Intuition folgend: »Was würdest du machen, wenn ich dich laufen lasse? Ich gehe doch, trotz meiner Dummheit, recht in der Annahme, dass der baldige Sonnenaufgang nicht dein Freund ist.«
Die bloße Erwähnung des Himmelskörpers zauberte einen Ausdruck von Schrecken in ihr Gesicht, doch ihre Antwort verriet keine Furcht.
»Ich würde Niedswar Bericht erstatten, euren Aufenthaltsort preisgeben und ihm sagen, mit was für einem Weichling er es zu tun hat.«
Jetzt lachte Kraeh. »Immerhin bist du ehrlich.«
Als er sie nach zusätzlichen Waffen abgetastet und die Funde an sich genommen hatte, löste er den Knoten einer der Schnüre an ihrem Handgelenk. Daraufhin machte er einen Schritt zurück und verharrte still, derweil sie die übrigen Fesseln abstreifte.
»Geh und genieße die Gesellschaft deines Meisters, solange du noch kannst.«
Ihre Augen trafen sich ein letztes Mal, dann eilte sie den Hang hinab, um sich ein Schlupfloch für den nahenden Tag zu suchen.
***
Am nächsten Morgen kam es zum Bruch zwischen den Gefährten. Er kam nicht überraschend, lange schon hatte er sich angebahnt und lediglich auf eine Gelegenheit gewartet. Kraeh hatte keine wirkliche Lüge im Sinn gehabt. Vielmehr wollte er durch eine kleine Notlüge ihnen allen eine Diskussion ersparen, als er sagte, er sei während seiner Wache kurz eingeschlafen. Sedain war nicht laut geworden. In eiseskalter Stimme hatte er schlicht konstatiert: »Du bist noch nie bei einer Wache eingenickt.« Es war der alte Streitpunkt. Dem Halbelf missfiel die Weichherzigkeit des Freundes, diesmal jedoch sei er eindeutig zu weit gegangen. Ohne Absprache einen Gefangenen entkommen zu lassen, der zwei von ihnen getötet hatte, sei mehr als töricht und er habe endgültig genug davon.
Warm fiel die Sonne auf
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