Rabenflüstern (German Edition)
–, verlebten sie eine unbekümmerte und harmonische Zeit. Doch wie alle glücklichen Zeiten, musste auch diese irgendwann enden.
Als Rhoderik die Menschen aus ihren Dörfern ziehen sah, wusste er, wie weiter vorzugehen war. Ostera stand vor der Tür, was bedeutete, dass alle, die konnten, in die Städte reisten, um dort das große Fest gemeinsam zu zelebrieren. Ihr Ziel hieß Brisak. Die Pferde an einem Waldrand zurücklassend schlossen sie sich einer bunten Festtagsgruppe an, die ohnehin schon viele Kinder mit sich führte. Unter ihnen dürften seine zwei Schützlinge kaum auffallen, dachte sich der Krieger. Das Schwert verbarg er, so gut es ging, unter seinem Fellumhang, Gesprächen ging er weitestgehend aus dem Weg. Schnell hatten die Geschwister mit einigen der anderen Kinder Freundschaft geschlossen.
Dem wortkargen Sonderling wurde keine nähere Beachtung geschenkt, zumal er vorgegeben hatte, seine Frau, die Mutter der beiden, sei vor Kurzem erst am Fieber gestorben. Nach drei Tagen erreichten sie gegen Nachmittag die Feste am Rhein. Es regnete heftig und ohne Nachfragen der Stadtwachen drängten sie mit dem Rest der Ankömmlinge durch das Tor. Viele führten Vieh mit sich, Kinder und Frauen hatten sich Blumen in die Haare geflochten, die ihnen wegen des Regens im Gesicht klebten. Ein heilloses Durcheinander war entstanden, in dem jeder versuchte, Schutz unter den über die Straßen ragenden Dächern zu suchen, und Mütter aufgeregt nach ihren Kindern riefen, die sie im Tumult aus den Augen verloren hatten. Sobald sie jenseits der Mauer waren, verließen sie unbemerkt ihre Reisegruppe. Heikhe war ungehalten, sich nicht von ihren neuen Freunden verabschieden zu dürfen, folgte schließlich aber doch, ohne aufzubegehren.
Heute Abend würden die Festlichkeiten beginnen. Rhoderik überfiel das übermächtige Gefühl, den Fehler begangen zu haben, genau dort zu sein, wo der gesichts- wie namenlose Feind sie haben wollte. Täuschte er sich oder hatte sich tatsächlich ein Schatten an ihre Fersen geheftet? Wäre er vom Gegenteil überzeugt gewesen, hätte er auf der Stelle kehrtgemacht. So gab es nur die Flucht nach vorn. Den engen nassen Straßen folgend fragten sie sich zum Hafen durch.
Auf der Suche
Mittlerweile war der Greis mit einer angewachsenen Zuhörerschaft ins Ratshaus umgezogen. Durch die offenen Fenster drang das letzte Zwitschern der Vögel, es war der Ausklang eines milden Sommertages. Von den Kindern war nur noch Fried wach, dessen Eltern beide tot waren und um den sich deshalb häufig alle, zuweilen aber auch niemand sorgte. Kaila schlief, den Kopf im Schoß des Greises gebettet. Die anderen waren zu Bett geschickt worden, als die Geschichte zunehmend düsterer und beklemmender geworden war.
Eine der Frauen hatte dem Alten trotz der angenehmen Witterung eine Decke über den Rücken gebreitet und Lorenz, der Schreiner, stopfte ihm jedes Mal, wenn seine Stimme müde wurde, einen neuen Pfeifenkopf. Sinnierend Ringe in die Luft blasend machte er eine Pause, was Fried zu einer Zwischenfrage ermutigte.
»War sie schön?«
»Wer?«, fragte er zwischen zwei gelungenen Ringen.
»Heikhe, natürlich.« Einige der Erwachsenen schauten ihn belustigt an.
»Für ihr Alter … Ich würde sagen, ja. Aber trotz der roten Wangen und ihrer hellen Locken eher von einer kühlen, strengen Schönheit.«
Lorenz schielte auf seine Pfeife, ein gutes Stück, an dem schon sein Vater gern genuckelt hatte. »Woher«, fragte er, seine Worte wohl überlegend, um den Alten nicht zu beleidigen, »kennst du die Geschichte eigentlich?«
Er bekam die Pfeife zurückgereicht. »Vieles wurde mir berichtet. Einiges, muss ich gestehen, reimte ich mir erst später zusammen, einen Großteil aber habe ich mit meinen eigenen Augen gesehen.« Alle außer Fried nahmen die Worte nicht für voll, interpretierten sie als zusätzliches Spannungsmoment, immerhin waren seitdem Generationen gekommen und gegangen.
»Weshalb hasste Berbast Kraeh und Sedain so sehr?«, meldete sich eine der Frauen zu Wort.
»Eine gute Frage«, gestand er ihr zu. Sanft hob er Kailas Kopf an und verlagerte ihn etwas, damit ihm nicht die Beine einschliefen.
»Es war kein wirklicher Hass, eher eine Mischung aus Verachtung und Neid. Ihr müsst verstehen, dass die beiden in ihren Umgangsformen untypisch für ihre Zeit waren. Sie lebten ohne Zwänge in einer Gesellschaft, die aus unendlich vielen Regeln und Gesetzen
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