Rabenflüstern (German Edition)
und kramte einen Fetzen Pergament und ein Stück Kohle aus der Tasche.
»Diktiere.«
Kraeh reichte ihm beides und formulierte die knappe Botschaft. Danach wickelten sie das Pergament um einen Pfeil und warteten. Als das Schwesternschiff in geeigneter Position zu ihnen stand und sie den General im Bärenfell am Heck erblickten, fragte Rhoderik: »Ist das der Kerl, dessentwegen die Kinder die Sonne nicht sehen dürfen?«
»Ganz recht.«
Rhoderik wies auf den Bogen. »Darf ich?«
Der Jüngere reichte ihn ihm und riet mit Blick auf die runzlige Haut am Unterarm des Schützen: »Irgendwo aufs Boot.«
Die Haut spannte sich wie die Sehne des Bogens. Nie hätte er dem Alten so viel Kraft zugetraut. Gleich würde das Holz splittern, dachte er, da kehrte sich die gespeicherte Kraft um und der Pfeil schoss durch die Luft.
Berbast aß einen Apfel und lehnte an einem Balken des Geländers, das in einem nach vorne offenen Quadrat die erhobene Hinterseite des Schiffes umkleidete. Die Pfeilspitze bohrte sich eine Haaresbreite neben seinem Unterarm in das Holz. Vor Schreck wäre er beinahe hintenübergekippt.
Als Kraeh sah, dass er schimpfen konnte, ihm also nichts geschehen war, winkte er provokativ, dann drehte er sich zu Rhoderik.
»Guter Schuss.«
»Leider daneben«, warf Sedain ein.
Der andere lächelte. »Das Alter … Vor zwanzig Jahren hätte ich ihn erwischt.«
Eine Perle Schweiß tropfte von seiner Stirn. »Ich schaue nach den Kindern.«
»Lass mich das tun«, schlug Kraeh vor, »ich brauche sowieso Schlaf.«
Froh über das Angebot, stütze er sich nachdenklich geworden an die eisenbewehrte Balustrade, während Kraeh im Bauch des Schiffes verschwand.
Die Ruder waren eingezogen. Kraeh durchschritt die Reihe der Schlafenden und trat in den anschließenden Raum. Dort fand er die Kinder vor, wie sie auf einer Speerschleuder, die erst im Notfall hochgeschafft werden sollte, umhertollten. Gemeinsam machten sie sich an der Spannvorrichtung zu schaffen, brachten aber nicht genug Kraft auf, die Wurfarme zurückzubiegen.
»Na, na«, sagte der Krieger, »dafür seid ihr noch etwas zu jung.«
»Pferdepisse!«, keifte ihn Heikhe mit vor Anstrengung verzerrtem Gesicht an. Er gestand ihnen zu, sich ein wenig weiter abzumühen, und richtete dabei ein Lager für die Nacht. Nebensächlich bemerkte er: »Ich dachte, ihr wollt vielleicht eine Geschichte hören über euren Vater … Aber wenn ihr Wichtigeres zu tun habt …« Er drehte den Kopf zur Wand.
»Ich will lieber die Geschichte hören«, fiel der Junge auf den Trick herein, auch weil seine Hände bereits schmerzten von der rauen Faser des Spannriemens, der sich einfach nicht vom Fleck rühren wollte.
»Gunther!«, mahnte seine Schwester säuerlich. Worauf er unsicher in der Mitte des Raums auf halbem Weg stehen blieb. Sie war ihm körperlich überlegen, was sie ihn auch, wann immer es ihr angemessen schien, spüren ließ.
»Kennst du ihn denn?«, fragte sie misstrauisch den seltsamen Mann mit den eisblauen Augen, die sie an die Kälte langer Winternächte erinnerte.
Seine Stimme war jedoch viel wärmer, als sein Äußeres vermuten ließ. »Kaum«, bekannte er, »aber ein Krieger ist zugleich auch immer ein Geschichtensammler. An vielen Feuern habe ich von den Taten eures Vaters gehört.«
Heikhe hatte von der Schleuder abgelassen und war neben ihren Bruder getreten.
»Er ist tot, oder?«, fragte sie unsicher.
»Er ist bei seinen Vorvätern in der großen Halle.«
Das kleine Mädchen bebte – erst vor Kummer, dann vor Wut. »Wenn ich seinen Mörder finde, bringe ich ihn um.« Dabei hatte sie den Dolch hervorgekramt, den sie zitternd vor sich hielt. Gunther stand reglos da.
Kraeh erhob sich und kniete vor ihr nieder. Der Mut der Kleinen rührte ihn. Er umschloss das Händchen, das sich an den Griff der Waffe klammerte, und sprach leise zu ihr. »Und ich werde dir dabei helfen, Heikhe Gunthertocht.« Ohne Gegenwehr senkte er die kleine Klinge.
»Doch jetzt«, sagte er an beide gewandt, »ist nicht die Zeit für Rache. Ihr müsst euch versteckt halten. Es wird der Tag kommen, da ihr mündig und stark sein werdet, bis dahin gilt es, am Leben zu bleiben.« Die Kinder fielen ihm in die Arme. Obwohl Kraeh ein derartiger Ausdruck von Vertrauen und Zuneigung fremd und beinahe unheimlich war, ließ er es geschehen und drückte sie, ihnen Schutz gewährend, noch fester an sich. Eine Geste, die er nie vergessen
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