Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Rabenflüstern (German Edition)

Rabenflüstern (German Edition)

Titel: Rabenflüstern (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Schmidt
Vom Netzwerk:
Haut zu retten. Der König hatte geduldig abgewartet und als die Wirkung ausblieb, dem Wurm eine Ohrfeige verpasst, die ihn von den Füßen gerissen und drei Manneslängen durch die Halle geschleudert hatte. Danach hatten die Wachen ihn unsanft über die Schwelle befördert. 
    Einiges über die großen Kulte hatte Kraeh auch mühevoll in Geschichtsbüchern nachgelesen, aber da ihn eher die strategischen Vorgehensweisen der alten Welt interessierten, war es ihm unmöglich, sein fragmentarische Wissen über die alten Religionen zu einem harmonischen Gesamtbild zu fügen. 
    »Hm«, machte er. »War nicht Saladin ein Anhänger dieses Glaubens?«, fragte er tastend, seine eindimensionale Ausrichtung war ihm etwas peinlich. 
    »Du hast überhaupt nichts verstanden, oder?«, sagte der Kobold unerbittlich, wobei er ein Auge zukniff. 
    »Nicht viel«, gestand Kraeh. 
    Heilwig lud ihn ein, ihm zu folgen. Ein warmer Wind fegte von der See her über die Zinnen und spielte mit ihren Haaren, während Heilwig erzählte. 
    »Die ganze Geschichte handelt von Zahlen«, begann er, als sie an dem letzten Fleck auf den Mauern angelangt waren, auf den noch Licht fiel. »Alles fing an mit der ersten Offenbarung. Vor unbeschreiblich langer Zeit lebte ein Mann namens Moses. Zu ihm sprach, meinem Wissen nach, jener Gott zuerst. Doch hatte er einige Hundert Jahre lang nur wenige Anhänger. In den alten Schriften ist lediglich von einem kleinen Volk die Rede. Du musst wissen, die Macht der Götter wächst mit der Zahl ihrer Anhänger.« 
    Kraehs Stirn lag in Falten. Nie hätte er gedacht, dass der königliche Berater, wohl der Weiseste, den er je getroffen hatte, derart abergläubisch sein könnte. Der Kobold schien seine Gedanken zu erraten, denn anstatt fortzufahren, erklärte er: »Statt des Begriffes Gott nimm: Prinzip, Vorstellung, eine Idee, die sich im Geiste der Menschen durchsetzt. Darauf kommt es hier nicht an. Ich rate dir gewiss nicht zum Glauben, wohl aber zum Sehen und vertraue mir, ich habe Dinge gesehen …« 
    Lou und Sedain kamen auf sie zu. »Stören wir?«, fragte sie. 
    Heilwig winkte ab. »Auch euch kann eine kleine Lektion in Sachen Geschichte nicht schaden.« Sedain verdrehte die Augen, setzte sich aber ohne ein Wort auf eine Zinne. 
    Nach einem Räuspern setzte der königliche Berater seine Erzählung fort. 
    »Daraufhin erschien das zweite Sprachrohr jenes selbstsüchtigen Gottes, Jesus. Ein anständiger und besonnener Kerl und noch dazu ausgestattet mit besonderen Gaben. Heutzutage würde man ihn wohl einen Zauberer heißen. Die Zahl der Jünger wuchs. Besonders nach seinem wenig erfreulichen Tod. Das damals herrschende Volk, die Römer, haben ihn an ein Kreuz genagelt, daher das Symbol.« 
    Die Kriegskrähe schaute grimmig drein. Die Römer waren ihm bei allem, was er gelesen hatte, stets unsympathisch gewesen. 
    »Ironischerweise waren es auch die Römer gewesen, die es schließlich zuließen, dass der eine Gott alle anderen, auch die, welche sie zuvor angebetet hatten, verdrängte.« Heilwig lächelte. »Jetzt ratet mal, wie der Name des Kaisers war, der das veranlasste.« 
    Die drei grübelten eine Weile, bis Sedain darauf kam. »Theodosus«, rief er, jetzt doch mit einigem Interesse beim Thema. 
    »Beinahe. Eigentlich Theodosius, aber ich denke, wir können den kleinen Unterschied getrost auf die Ignoranz unsres zeitgenössischen Fürsten und seiner sogenannten Gelehrten zurückführen …« Er hatte den eigentlichen Faden verloren; sein hutzeliges Gesicht verkrampfte sich, bis er plötzlich den Zeigefinger hob und weiterberichtete. 
    »Genau … richtig«, sammelte er sich. »Wenig später jedenfalls kam es zu der dritten Offenbarung, aus dem Mund des dritten Verkünders. Also der nächste und vorerst letzte Mensch, der behauptete, jener Gott spräche zu und aus ihm. Vermutlich der, welcher euch am ehesten zusagen würde. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger war dieser kein Asket, kein zurückhaltender Heiliger. Er kostete das Leben in vollen Zügen, verschmähte weder die Wärme seiner zahlreichen Frauen noch die Gewalt. Auch wenn die Anhänger des zweiten bald in den Krieg mit denen des dritten gerieten, herrschte doch ein Gott. Was diese Herrschaft brachte, war das bis dahin dunkelste Kapitel dieser Welt. Alles, was sich nicht beugen wollte, alle, die anders waren, wozu in einer männerdominierten Gesellschaft schon das Weiblichsein zählte, wurden verfolgt und für Jahrhunderte versklavt. Doch

Weitere Kostenlose Bücher