Rabenflüstern (German Edition)
Bach zu nennen, war offensichtlich der Ursprung. Der Krieger hätte eher mit einem haushohen Wasserfall gerechnet.
»Brumm, brumm, brumm«, singt jemand durch das flache Wasser trampelnd. Ein knappes Flötenspiel ertönt. Und in Sicht kommt die äußerst eigenartige Gestalt des Pans. Das Wackeln seiner Hörner, da er auf ihn zutänzelt, macht Kraeh schwindeln.
»Röckchenschisser«, sagt der Krieger, dem gerade der Lendenschurz des Wesens auffällt, der nur dürftig die Konturen eines riesigen zapfenartigen Gemächts kaschiert, und der zugleich etwas Sinnvolles zur Begrüßung sagen als auch seine Missgunst über das an diesem Tag Vorgefallene ausdrücken möchte.
Die Bocksbeine kommen unwirsch einige Fuß weit vor ihm zum Stehen. Erst jetzt scheint er zu bemerken, dass Kraeh gesprochen hatte.
»Was sagst du da, Kriegskrähe?«, will der Pan schrägen Blickes von ihm wissen.
Kraeh denkt kurz nach, dann fällt es ihm wieder ein: »Röckchenschisser, nannte ich dich – Röckchenschisser.«
Die Borkennase seines Gegenübers hüpft auf und ab, als müsste es niesen. Ein seltsames Quieken, gefolgt von dem lautesten Lachen, das der Krieger je gehört hat, erklingt; selbst die Bäume um sie her fallen raschelnd mit ein. Langgliedrige Finger, die sich so schnell bewegen, dass Kraeh sie nicht zählen kann, wischen Tränen aus den undeutbar tiefbraunen Augen. »Wohl zu viel am Mohn geschnuppert …«, sagt der Pan, bemüht, nicht von Neuem loszulachen.
»Sehr lustig«, fährt Kraeh ihm ungehalten über den Mund.
»Wer hat mich denn hierher gelockt? Und wieso um alles in der Welt war es nötig, mein Pferd boshaft abzuschlachten?«
Der Pan wirkt weniger vergnügt, stemmt die Hände in die Hüfte und antwortet ernst: »Wir haben niemanden irgendwohin gelockt. Wir vertreten die Göttin und sie ist weder gut noch ist sie böse .« Die Worte kommen ihm sichtlich schwer über die breiten Lippen. »Es war allein deine Entscheidung, Scharftatze zu stören; wir warteten nur auf dich.«
Kraeh zweifelt daran, doch fällt es ihm schwer, dem Gespräch zu folgen, und so wechselte er das Thema. »Wen meinst du mit ›wir‹? Kommt dein Freund auch noch?« Beim bloßen Gedanken an den Engel, wie der geisterhafte Gefährte des Bocksbeinigen sich genannt hatte, dreht sich ihm der Magen um.
»Mach dir keine Sorgen, heute unterhalten wir und du uns alleine.« Irgendetwas stimmt an der Antwort nicht, aber Kraeh bekommt es nicht zu fassen. Ständig hat er das Gefühl, ihm entgleitet das Wesentliche, weshalb es ihn das Beste dünkt, einfach zuzuhören, was diese halbtierische Kreatur ihm mitzuteilen hat. Er muss nicht lange schweigen, bis der Pan den Faden – oder auch einen anderen, darin ist er sich nicht vollkommen sicher – wieder aufnimmt. »Er ist beschäftigt, musst du wissen, oh ja, sehr beschäftigt. Aber …«, hob er an und Kraeh fällt auf, wie es dem Pan ebenfalls schwerfällt, bei einer Sache zu verharren. Immerfort ändert er seine Position, führt die Flöte zum Mund und lässt sie wieder fahren. »Wir wurden geschickt, einige Dinge klarzustellen.«
»Wer wäre dafür besser geeignet als du?«, fragt Kraeh ironisch, der Pan hingegen fühlt sich ermuntert.
»Stimmt, stimmt, wir kennen viele Geschichten …« Seine flinken Finger machen Bewegungen, die so aussehen, als würde er die ihm bekannten Sagen an den Gelenken abzählen. Nach kurzer Zeit lässt er davon ab und schaut Kraeh eindringlich an. »Wir sprechen nicht allein für die Göttin. All ihre erst- und zweitgeborenen Kinder …« Wie ein Sturzbach sagt er nun so viele Namen auf, dass Kraeh sich nicht einen einzigen merken kann. »Sie alle«, schließt er, »sprechen durch uns. Wir wollen dich warnen. Du musst das Auge finden, bevor ER es findet, und es …«, er stockt, »… es zerstören.«
»Was?«, fragt Kraeh so aufgebracht wie möglich. »Dir ist bestimmt bewusst, dass ein Schwur mich bindet«, fügt er matt hinzu, seine Stimme ist kurz davor, ihm zu versagen.
Eigenartigerweise macht der Pan auf einmal einen traurigen Eindruck auf ihn. Die Finger auf seiner Flöte stehen zum ersten Mal still. »Ja, die Regeln haben sich geändert. Das Gleichgewicht ist in Gefahr. Uralte Gesetze geraten ins Wanken, nur deshalb können wir auch in Abwesenheit des Metatron – verzeih«, sagt er rasch, als er den unverständigen Blick Kraehs bemerkt, »ich meine, in Abwesenheit des Engels mit dir sprechen.«
Mit letzter Mühe gelingt es
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