Rabenherz & Elsternseele
sorgsam zusammengelegt. Auf dem Tisch lagen noch die alte Fernsehzeitung, ein Reiseführer und eine von Omas Brillen. »Sie wäre doch nicht ohne ihre Brille aus dem Haus gegangen«, hatte Papa gesagt. Aber sie besaß mehr als eine, und keiner von uns wusste, wie viele genau. Auch der Reiseführer gab uns keinen Hinweis, denn er handelte von unserer eigenen Gegend und lag schon hier im Wohnzimmer, seit ich denken konnte. Das Lesezeichen blieb immer an der Stelle, an der in einem Absatz unser Ort abgehandelt wurde. Rosenrode, Kleinstadt mit soundsovielen Einwohnern, neugotisches Rathaus, erbaut im Jahr X, und eine Kirche haben wir auch. Das uninteressanteste Buch im Haus, und das wollte was heißen. Denn Bücher besaß Oma in rauen Mengen. Ein Teil des Wohnzimmers war einst als Esszimmer gedacht gewesen. Doch Oma hatte eine Bibliothek daraus gemacht, in der die Regale alle Wände ausfüllten und auch als Raumteiler dienten. Ich hatte darin meine eigene Ecke, mit einer kleinen Matratze und Kissen auf dem Boden. Die Bücher, die Oma für mein Alter richtig fand, standen immer auf Augenhöhe. Anfangs also ganz unten, je mehr ich gewachsen war, dann immer weiter oben. Die meisten hatten meinem Vater gehört. »
Leander Korvinian
« stand in seiner schönen, schmalen Handschrift auf den Deckblättern.
Gegenüber ragte das Regal mit Omas Sammlung von Vogelbüchern auf: Vogelmärchen, Bestimmungsbücher, Fotobände und wissenschaftliche Werke.
So unwohl ich mich allein hier auch fühlte, fand ich es nun doch beruhigend, dass ich wenigstens das Haus nicht verlieren würde. Im Gästezimmer neben der Bibliothek hatte sich ebenfalls nichts verändert. Da Oma nie Gäste hatte, war es eine Art Rumpelkammer für alles, was sonst keinen Platz fand, vor allem für die Gartenmöbel, die im Sommer auf der Terrasse vor dem Wohnzimmer standen.
Langsam gewöhnte ich mich an das einsame Gefühl im Haus.
Die Küche betrat ich schon ganz selbstverständlich und spürte sofort, dass ich nicht richtig Abendbrot gegessen hatte. Mama hatte alle verderblichen Lebensmittel aus Omas Kühlschrank geräumt und mit zu uns genommen, aber ich wusste, dass im Schrank noch mindestens zwei Packungen von meinen Lieblingskeksen lagen. Zumindest war ich davon überzeugt gewesen. Als ich den Schrank öffnete, herrschte darin jedoch Leere. Mein Herz fing an schneller zu schlagen. So leer war dieser Schrank noch nie gewesen, auch nicht nach Mamas Aufräumaktion. Rasch öffnete ich die anderen Schränke. Kekse, Schokolade, Knäckebrot, Chips: Von allem fehlte etwas oder Packungen waren angebrochen, die es vorher nicht gewesen waren.
War Oma doch wieder hier gewesen? Oder war sie noch da?
Ich sauste zur Treppe ins Obergeschoss und nahm immer zwei Stufen auf einmal. Vorsichtig schob ich die Tür zu ihrem Schlafzimmer auf. »Oma?«, fragte ich leise. Nichts.
Mein Zimmer, in dem früher mein Vater gewohnt hatte, grenzte an ihres an. Alles lag unter der gemütlichen Dachschräge mit dem großen Fenster so da, wie ich es verlassen hatte. Badezimmer und Abstellkammer unter der Bodentreppe: ebenfalls Fehlanzeige. Blieb noch Omas Arbeitszimmer. Ohne Hoffnung schleppte ich mich hinein und ließ mich auf den Besuchersessel fallen. Als würde Oma sich von Ingwerkeksen und Chips ernähren, wenn sie zurückkäme! Wahrscheinlich hatte Papa die Knabbersachen im Laufe des Aufräumens gegessen oder eingesteckt.
Das Zeug auf dem gewaltigen alten Schreibtisch, der Rück- und Seitenwände bis zum Boden hatte, war typisch Oma. Lauter hübsche glitzernde Sachen und dazwischen Papierkram, den sie noch hatte erledigen wollen. Sie hatte als Geschäftsleiterin eines Freilichtmuseums gearbeitet und half dort ehrenamtlich aus, seitdem sie in Rente gegangen war. Früher hatte ich manchmal in der Schreibtischhöhle zu ihren Füßen gesessen, während sie einen Brief schrieb oder einen Zeitungsartikel abheftete.
Ich wollte nicht schon wieder heulen, aber die Tränen kamen mir einfach. Mann, ich vermisste sie so. Am Arm trug ich fünf aus Perlgarn geknotete Armbänder, die sie für mich gemacht hatte. Im Laufe der Jahre hatte sie mir bestimmt hundert davon geschenkt und ich hatte immer welche getragen. »Die beschützen dich und bringen Glück.« Oma konnte die schönsten Muster fabrizieren, in der Schule staunten alle darüber. Das allererste Band, das sie mir gemacht hatte, als ich noch ein Baby war, hatte sie später in ein größeres eingearbeitet und selbst getragen. Sie hatte es
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