Rabenherz & Elsternseele
Türangel. »Hallokommrein, hallokommrein.«
Ich seufzte und setzte mich auf meinen Schreibtischstuhl. »Ich habe keine Ahnung, was du willst. Wo soll ich rein? Ich bin doch drin.«
Der Klang meiner Stimme brachte sie dazu, innezuhalten. Sie legte den Kopf schief und blickte mich an, als würde sie nachdenken, doch dann quietschte sie bloß wieder, stürzte sich auf meine bunten Pantoffeln und pickte wie wild daran herum. »Hallo. Komm rein«, sagte sie dabei.
Erschrocken zog ich die Füße weg. »Hey!«
Sie flatterte auf die Fensterbank. »Hallo. Komm rein.« Und wieder zurück zu meinen Füßen, hackte nach den bunten Verzierungen, flog auf die Fensterbank und wiederholte das Ganze gleich noch einmal. »Hallo. Komm rein.« Allmählich wirkte sie verzweifelt, und deshalb kam ich darauf, dass sie mir womöglich etwas ganz anderes sagen wollte.
»Willst du mir etwas zeigen?« Ich stand auf, zog mir ein Sweatshirt über und ging in den Garten hinaus. Als ich zu meinem Fenster hinaufsah, flog die Elster wie wahnsinnig rein und raus und keckerte dabei aufgeregt.
»Ich bin hier!«, rief ich ihr zu. Prompt kam sie im Sturzflug herunter, landete vor meinen Füßen und pickte diesmal nach meinen Turnschuhen, bevor sie aufflog und sich auf dem Dach des Fahrradschuppens niederließ. »Hallo. Komm rein«, sagte sie.
»Schon gut. Langsam habe ich kapiert.« Ich holte mein Rad und schaute zu dem Vogel hoch. »Also dann los.«
»Hallo. Komm rein«, sagte die Elster, und zum ersten Mal klang sie glücklich. Elegant hob sie ab und flog voraus.
Es dauerte nicht lange, bis ich verstand, wohin sie mich führte. Schließlich kannte ich selbst jeden Baum auf dem Weg zu Omas Haus. Nun wurde mir ein bisschen mulmig. Was, wenn der schwarz-weiße Vogel von Meutingers Bote war und mich in eine Falle lockte? Ausnahmsweise ließ ich mein Rad vorne vor dem Haus stehen. Ich hielt so viel Abstand von der Hausecke wie möglich und warf einen Blick in den Garten, wo die Elster inzwischen auf der Fensterbank des Wohnzimmers hockte und gegen die Scheibe pickte. »Hallo. Komm rein. Hallo. Komm rein«, sagte sie. Eine Bewegung im Inneren des Hauses brachte sie dazu, aufzufliegen und sich in die nahen Bäume zurückzuziehen.
Hätte ich fliegen können, hätte ich dasselbe getan. Da ich es aber leider nicht konnte, blieb ich vor Schreck wie gelähmt stehen und starrte auf die Terrassentür. Sie wurde von innen geöffnet. »Pia?«, hörte ich eine schwache Stimme sagen. Jetzt lief ich doch Richtung Tür. Ich konnte es nicht fassen. »Oma?«
Oma ließ mich herein, schloss die Tür hinter mir wieder und umarmte mich. Ohne dass ich etwas dagegen tun konnte, begannen mir Tränen aus den Augen zu kullern, und ich brachte kein Wort hervor. Erst als ich merkte, dass auch Oma weinte und außerdem zitterte, riss ich mich zusammen und musterte sie besorgt von oben bis unten. Sie war immer klein gewesen und nie dick, aber nun sah sie richtig gebrechlich aus. »Wo warst du denn bloß?«, fragte ich, und meine Stimme geriet dabei gleich wieder ins Schlingern.
»Es tut mir so leid, meine Kleine. Ich war eigensüchtig«, sagte sie. So hilflos, wie ich sie noch nie erlebt hatte, griff sie nach meinem Arm und zeigte auf ihren Sessel, damit ich ihr half, sich hinzusetzen. Als sie sich auf mich stützte, bemerkte ich, dass sie humpelte. Stöhnend sank sie in die Sesselpolster und fasste sich an ihr Bein. Diese Geste kam mir bekannt vor. Fassungslos stellte ich fest, dass unter Omas Rock neben einem normalen Menschenbein ein Vogelbein hervorragte, dessen schuppige, knochige Oberfläche erst beim Schienbein in normale Haut überging. Also hatte Strix im Gegensatz zu mir richtig geraten, ohne es zu ahnen.
Als ich wieder aufblickte, waren Omas Augen traurig. »So solltest du es nicht erfahren. Aber das geschieht wohl immer, wenn man etwas zu lange hinauszögert. Dann wird es einem aus der Hand genommen.«
Meine Knie wurden zu Pudding und mein Hirn ebenfalls. Ich sagte das Erstbeste, was mir einfiel. »Wer war die Elster, die mich hergebracht hat?«
Oma seufzte tief. Sie sackte dabei in sich zusammen wie ein Ballon, der das letzte bisschen Luft verliert. »Das ist eine lange Geschichte. Würdest du so lieb sein und mir einen Tee machen, bevor ich sie dir erzähle? Und falls du noch einen Keks findest …«
Ich war schon in die Küche geflitzt, ehe sie es ganz ausgesprochen hatte. Mein Verstand arbeitete zwar noch längst nicht wieder reibungslos, aber zum
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