Rabenherz & Elsternseele
um sie, als wäre sie eine gute Freundin. Ich schämte mich für jede Minute, die ich unfreundlich zu ihr gewesen war. So schlimm war sie ja eigentlich gar nicht. Warum war ich heute nicht eher zu ihr gefahren? Und warum hatte ich es mir überhaupt so leicht gemacht und sie allein hiergelassen?
Holterdiepolter rannte ich die Treppe wieder hinunter und zuerst ins Wohnzimmer, wo ich aber nichts Verdächtiges entdecken konnte. Da lag nur ein aufgeschlagenes Buch in meiner Leseecke, als hätte Jori dort gerade gesessen und Märchen gelesen, bevor was auch immer geschehen war.
In der Küche und im Abstellraum fand ich ebenfalls nichts. Blieb nur noch der Keller übrig. Ich musste schlucken, denn auch wenn ich früher vor Omas Keller keine Angst gehabt hatte, sträubte sich unter diesen Umständen alles in mir dagegen hinunterzugehen. Ich musste meinen ganzen Mut zusammennehmen, öffnete langsam die Tür, lauschte und knipste das Licht an. Unwillkürlich schlich ich die Treppe hinunter. Als hätte es mir jetzt noch geholfen, leise zu sein, wenn da ein Verbrecher gelauert hätte!
Tatsächlich war niemand im Keller, aber es gab deutliche Hinweise darauf, dass jemand dort gewesen war. Mir schnürte es die Kehle zu, als ich auf dem Boden zwischen den Scherben einiger Marmeladengläser drei kleine Federn bemerkte. Wenigstens eine davon erkannte ich ziemlich sicher als Habichtsfeder.
Hätte Jori allein damit experimentiert, sich zu verwandeln, wäre sie dazu wohl kaum in den Keller gegangen. Sie hätte ihn ja nicht wieder verlassen können. Ich ging zu der Tür, die von hier unten direkt nach draußen führte und die normalerweise immer abgeschlossen war. Diesmal war sie es nicht. Todesmutig riss ich sie auf. Nichts. Die Schicht aus feuchtem Laub, Moos, Spinnweben und alten Daunenfedern auf der Treppe draußen war an einigen Stellen von groben Schuhen zertrampelt. Rasch klappte ich die Tür wieder zu und drehte den Schlüssel im Schloss.
Nun war ich fest überzeugt, dass der üble Falkner einen Trick kannte, Vogelmenschen gegen ihren Willen zu verwandeln. Er hatte Jori zum Habicht gemacht und entführt. Aber woher hatte er gewusst, wo sie war? Hatte er Omas Haus gekannt? Konnte er hellsehen? Oder war er am Vortag Strix doch heimlich gefolgt? Für eine Sekunde blitzte in meinem Kopf der hässliche Gedanke auf, dass Strix auch etwas damit zu tun haben könnte. Immerhin war es schon etwas merkwürdig, dass er so plötzlich mit seiner Familie weggefahren war, obwohl er doch diesen Job auf der Burg hatte. Andererseits starben Leute ja manchmal unerwartet, und Beerdigungen wurden nicht Wochen vorher angekündigt.
Aber wenn wirklich von Meutinger alleine vor der Haustür gestanden hatte, warum hatte Jori ihm einfach aufgemacht? Dass man sowas nicht tat, lernten doch schon kleine Kinder.
Mit schwerem Herzen sammelte ich die Federn auf, steckte sie in meine Hosentasche und zog dafür mein Handy heraus. Beerdigung hin oder her, wenigstens eine SMS musste Strix bekommen. Jori verschwunden, Federn gefunden , schrieb ich.
Anschließend ging ich nach oben, schloss die Haustür und setzte mich zum Nachdenken in Omas Lieblingssessel. Seufzend hob ich ihren Handarbeitskorb auf meinen Schoß und streichelte die bunten Garnknäuel. Wir hatten uns oft über meine vergleichsweise kleinen Sorgen unterhalten, während sie hier saß und Armbänder knüpfte. Ich vermisste sie gerade jetzt so schrecklich, dass ich hätte heulen können. Aber es kam mir vor, als ob ich damit zugäbe, dass sie nicht zurückkommen würde. Also heulte ich nicht, sondern kramte in dem Korb und holte das Armband heraus, an dem sie gerade gearbeitet hatte. Es war aus einer neuen, besonders festen und glänzenden Sorte Garn, erst wenige Zentimeter lang und bestand aus verschiedenen Grüntönen. In der Mitte verlief ein etwas seltsames schwarz-weißes Muster. Erst als ich das Armband umdrehte, kam ich darauf, dass die kleinen schwarzen und weißen Knoten einen halbfertigen Vogel darstellten. Offenbar hatte Oma ihre Gartenelstern verewigen wollen.
Ich war so ratlos, was ich nun unternehmen sollte, dass ich beschloss, doch Mama einzuweihen. Wenn ich ihr alles in Ruhe erklärte, würde sie mir vielleicht glauben und uns helfen, ohne zu viel Wirbel zu veranstalten.
Es nieselte noch immer, als ich aufs Rad stieg, was meine Stimmung nicht verbesserte. Zu Hause versuchte ich gleich, Mama bei der Arbeit anzurufen, aber sie ging nicht ans Telefon. Wahrscheinlich war sie in einer
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