Rabenherz & Elsternseele
Teekochen reichte es. Kekse gab es keine mehr, doch zum Glück hatte ich Joris Frühstück auf dem Tisch liegen lassen. Während das Wasser heiß wurde und ich für Oma ein Honigbrötchen schmierte, ordneten sich meine Gedanken langsam, und eine Flut von Fragen überschwemmte mich. Als ich das Tablett ins Wohnzimmer trug, wo Oma zurückgelehnt und mit geschlossenen Augen im Sessel saß, musste ich mich bremsen, damit ich nicht mit all diesen Fragen auf einmal herausplatzte.
Ich stellte das Tablett ab, tunkte den Teebeutel noch ein paarmal ein, damit der Tee schneller fertig wurde, und reichte Oma den dampfenden Becher. Als sie danach griff, rutschte ihr weiter Pulloverärmel zurück, und ich sah Federn an ihrem Arm. Schwarze und weiße. Da konnte ich mich endgültig nicht mehr zurückhalten. »Bist du eine Elster? Warum habe ich davon nie etwas bemerkt? Warst du die ganze Zeit hier im Garten? Wir haben dich wie verrückt gesucht. Mama und Papa glauben, du bist tot. Warum hast du das gemacht? Oder warst du gefangen?«
Oma hielt ihre Nase in den heißen Dampf des Tees und schloss wieder die Augen. »Hast du die Notizbücher im Keller gefunden?«
Gespannt setzte ich mich wieder auf den Fußschemel und sah zu ihr auf. »Ja. Da war dieses Mädchen … Oder hast du das alles mitbekommen? Sie ist ein Habicht, und wir haben eure Notizen zusammen gelesen.«
Sie schnaubte belustigt oder verächtlich, so genau war es nicht zu deuten. »Ein Habicht, ja. Das hätte dein Vater sich nicht träumen lassen, dass seine Beobachtungen ausgerechnet mal einem Habicht nützen würden. Arrogante und feindselige Kreaturen, diese Hakenschnäbel. Ts.« Sie ruckte ein kleines bisschen mit dem Kopf, so wie Elstern es manchmal taten.
Ich musste lachen, obwohl mir eigentlich nicht lustig zumute war. »So klänge Jori, wenn sie über Elstern sprechen würde. Dass Elstern und Habichte sich nicht besonders mögen, habe ich inzwischen bemerkt.«
»Den Elstern sind die Habichte gleichgültig. Die Habichte sind es, die bei jeder Gelegenheit die Elstern angreifen.« Sie nippte an ihrem Tee. »Aber das ist nur eines der vielen Dinge, die du erfahren musst. Hast du gelesen, was in den Notizbüchern über Vögel und die Seelen der Toten steht?«
Ich hatte es gelesen. Schon deshalb, weil dieses Textstück von meinem Vater stammte. Es war ein Kommentar zu den Märchen, in denen Vögel Menschen als Retter in der Not erscheinen. Der Vogel in Aschenputtels Baum, der Vogel, der Hänsel und Gretel durch den Wald führt, oder die Vögel, die sich von Menschen belauschen lassen und ihnen auf diese Art wertvolle Tipps geben.
Es ist ein uralter Volksglaube, dass die Seelen mancher Verstorbenen als Vögel wiederkehren, um eine Weile in der Nähe ihrer Angehörigen zu verweilen. Das kann in Notlagen geschehen oder weil die Seele nicht zur Ruhe kommt, wenn ihre Sehnsucht nach ihren Lieben übergroß ist. Möglicherweise handelt es sich jedoch um Vogelmenschen, die nach ihrem menschlichen Tod
ihre Vogelgestalt noch für ungewisse Zeit behalten oder wiedererlangen können. Es ist wenig über das Lebensende der Vogelmenschen bekannt, doch scheint sich der Verwandlungsrhythmus mit zunehmendem Alter zu verändern.
»Was hat das mit dir zu tun?«, fragte ich.
»Nun, um das zu verstehen, musst du wissen, dass ich mich nicht mehr verwandelt habe, seit dein Vater gestorben ist. Ich wollte es nicht mehr. Zum einen, weil es mich zu sehr an ihn erinnerte, aber zum anderen natürlich, weil ich mehr Angst hatte als früher. Mir sollte nichts zustoßen, denn es gab ja nun dich. Und du solltest nicht auch noch die Oma verlieren. Aber …«
»Also kannst du selbst bestimmen, wann du dich verwandelst? Jori kann das nicht. Und auch dieser Bubo nicht, soweit ich weiß. Er ist ein Uhu.«
»Von einem Uhu hatte ich bisher nichts gehört. Aber dass deine Habichtfreundin nicht viel Erfahrung damit hat, die Gabe und den Fluch zu beherrschen, das kann ich mir vorstellen. Sie lassen sich nichts sagen, diese Habichte. Sind zu stolz, um Ratschläge zu erbitten und anzunehmen.« Mit einem erschöpften Stöhnen rieb sie sich das Vogelbein. »Pia, mein Schätzchen, die Wahrheit ist, ich bin alt und werde die Verwandlung selbst nicht mehr lange beherrschen können. Schon ein ganzes Jahr lang habe ich diese Sehnsucht gespürt, noch einmal zur Elster zu werden. Schließlich dachte ich, dass ich vielleicht merke, dass mein Leben zu Ende geht. Ich habe mir überlegt, dass meine Seele nur dann
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