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Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)

Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)

Titel: Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Kammer
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träumen sich, sie tun alles mit ihrem Geist. Hier unten erfrieren ihre Körper.“
    „ Sie erfrieren?“
    „ Ja, sie leben nicht lange. Ein paar Jahre nur.“
    „ Aber einige Ganduup sehen sehr lebendig aus. Nicht wie Geister!“
    „ Das sind sie, bis sie geweiht werden. Wenn sie geweiht werden, kommen sie hierher. Sie trinken aus der blauen Flasche, die du in den Händen gehalten hast, und werden Geister, die oben wandeln, bis ihre Körper hier unten sterben. Dann lösen sie sich in Luft auf.“
    „ Und danach?“
    „ Sind sie ewig oder auch nicht. Wer weiß das schon?“
    „ Du bist das einzige Kind hier“, stellte Elsa fest.
    „ Weil ich die Anführerin bin. Hier unten bin ich ein Kind, oben bin ich alt und stumm. Ich werde nie erwachsen werden. Vorher werde ich durch ein neues Kind ersetzt.“
    Elsa löste ihren Blick von dem Mädchen mit den weiß brennenden Augen. Sie betrachtete die Schlafenden. An einer von ihnen blieb ihre Aufmerksamkeit hängen. Das Gesicht dieser Schlafenden war starr und gefühllos, die Lippen bläulich, die Augen rot gerändert.
    „ Es gefällt mir hier nicht“, sagte Elsa.
    „ Dann sei froh, dass du nicht aus der blauen Flasche getrunken hast. Jetzt kannst du zur Sonne zurück. Geh nur immer der Luft nach.“
    Es war nicht schwer, den Rückweg zu finden. Ein warmer Luftzug, der Leben versprach, kam von oben und zog Elsa bis zu den vertrauten Kellerräumen hinauf. Sie sah sich kein einziges Mal nach dem Kind um, obwohl sie es mochte. Sie verstand nicht, welche Botschaft es an sie hatte richten wollen. War es ein Hilferuf gewesen? Oder eine freundliche Warnung? Elsa zitterte vor Kälte und eilte ins Freie, um sich in der Sonne wieder aufzuwärmen.
     
    In den nächsten Tagen hielt sie nach Holanda Ausschau. Als sie ihr endlich begegnete, gab es kein Zeichen des Wiedererkennens. Trotzdem war Elsa sicher, dass das Kind und Holanda dieselbe waren. Vielleicht wussten sie nichts voneinander. Von diesem Tag an taten Elsa die Ganduup leid. Sie erschauerte, wenn sie die lachenden, leichtfüßigen Geister sah, die Sorglosen, die ein so kaltes Geheimnis hatten. Ihr stiegen die Tränen in die Augen, wenn sie eine Ganduup singen hörte. Denn die Lieder handelten vom Verlust des Körpers und der Sehnsucht nach ihm. Umso lieber sprach Elsa nun mit Gaiuper, einem Nicht-Ganduup, einem Wesen aus Fleisch und Blut. Sie machte sich lustig über ihn. So weit war es mit ihr gekommen.
    „ Ist Morawena schon deine beste Freundin geworden?“
    „ Jedes Geschöpf hat einen Schlüssel“, antwortete er. „Sie auch und den finde ich.“
    „ Ist das so? Was ist mein Schlüssel, Gaiuper?“
    „ Du brauchst jemanden, der dir sagt, wer du bist. Was man dir auch erzählt, du glaubst es schnell und gern.“
    „ Was ist dein Schlüssel?“
    „ Er ist vergraben. Unerreichbar für alle.“
    „ Wie praktisch“, sagte sie. „Wie macht man das?“
    „ Man hat keine Schwächen und dient einer höheren Aufgabe. Man folgt seinem Weg, ohne zur Seite zu sehen. Du siehst andauernd zur Seite. Du drängst allen Leuten deinen Schlüssel auf. Du bist schwach.“
    „ Ich weiß, ich weiß.“
    „ Du kannst noch einmal mit Morawena sprechen“, sagte er überraschend.
    Und Elsa war so erstaunt, dass sie ihn nicht länger ausfragte.
     
    An einem stürmischen Abend kurz vor Vollmond machte Gaiuper seine Ankündigung wahr. Seit Elsas Ankunft in Ganduup waren nun fast drei Monate vergangen. An diesem Tag schlugen die Wellen ungewohnt heftig gegen den Felsen, auf dem die Festung erbaut war. In Morawenas Zimmer standen die Fenster weit offen. Fliegen und Falter tanzten in der Luft, schwarz gegen die blau-violette Dämmerung. Es roch nach Flieder und Kirschbäumen, nach Veilchen und einer Blume, die es nicht geben konnte. Denn ihr Duft war traurig und vergeblich, geradezu mörderisch vor sinnlos verströmender Hoffnung. Elsa rätselte, ob dieser Duft eine Foltermethode der Ganduup war, um Morawena zu erschüttern, oder ob dieses Gefühl von Morawena selbst ausging, die auf einem Stuhl saß und geradeaus blickte, als sei Elsa gar nicht da.
    Sie waren alleine, doch Elsa war sicher, dass sie belauscht wurden. Etwas anderes hätte Gaiuper nie zugelassen. Elsa kniete auf einem Schemel und beobachtete Morawena aufmerksam. Morawena atmete tief und regelmäßig und hatte die Hände in den Schoß gelegt wie eine Ganduup-Priesterin beim Weben der leuchtenden Fesseln. Wenn Elsa nicht gewusst hätte, dass Morawena ab und zu sprach,

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