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Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)

Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)

Titel: Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Kammer
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Verlangen. Etwas, das er haben will, aber nicht haben kann. Es ist schlimm, wenn einen dieses Fieber packt.“
    „ Warum macht ihr das dann? Es ist böse.“
    „ Nein, die Gefangenen möchten das so.“
    „ Welche Gefangenen?“
    „ Unsere Gefangenen. Wir geben ihnen Fesseln, sie geben uns, was wir zum Leben brauchen.“
    „ Wie sieht das aus, wenn einer gefesselt ist?“, fragte Elsa. „Leuchtet er wie der Stoff im Webstuhl?“
    „ Die Fessel leuchtet nur bei ihrer Entstehung. Sonst ist sie unsichtbar.“
    In den oberen Kellern der Ganduup-Festung war es angenehm warm, die Dunkelheit duftete. Elsa ging oft barfuß über den weichen Staub der unbenutzten Gänge, neugierig auf der Suche nach etwas, das sie ablenken könnte. In den runden Räumen lagerten Betten und Matratzen, Kisten mit Nahrungsmitteln, Seile und Netze. Einmal fand Elsa einen Lichtstrahl auf dem Boden, einen dünnen Faden Tageslicht. Er wies ihr den Weg in einen versteckten Raum, dessen Eingang sie fand, indem sie eine große Kiste beiseite schob. Darin standen Tische mit Glasfläschchen, Trichtern und Schläuchen. Es gab ein trübes Fenster in der Felswand, unmittelbar über der Meeresoberfläche. Als Elsa es öffnete, machte es ein schauriges Geräusch. Wie ein stöhnender Baum, ein vernarbter Geist oder etwas, das nicht aufgeweckt werden wollte. Sie öffnete es nur einen Spalt breit und spähte hinaus.
    Das Wasser spritzte gegen den Fels und roch besonders scharf und salzig. Schlacke aus verfaulten Algen klebte am Rahmen. Elsa hätte schwören können, dass es hier unten etwas gab, das nicht stimmte. Sie fühlte sich von Gespenstern umgeben und war unsicher, ob es freundliche oder böse Wesen waren. Wahrscheinlich hatte sie ein Labor gefunden, in dem Ganduup-Säfte hergestellt und gelagert wurden. Die Ganduup hatten immer ein Fläschchen zur Hand mit Schlafmittel, Traumessenz, Farbrausch oder Illusion. Für gewöhnliche Menschen war das Ganduup-Spielzeug lebensgefährlich. Doch Elsa konnte es nicht lassen, den Stöpsel von einer Flasche mit einer rosa Flüssigkeit zu ziehen und daran zu riechen. Ein seifiger Geruch stieg auf und Bilder strömten in ihren Geist, zähe Wasserfälle von Geschichten, die so miteinander verwachsen waren, dass sie sich gegenseitig verkrüppelten und auffraßen. Schnell verschloss Elsa die Flasche und ging zum Fenster, um frische Luft zu atmen.
    Dann probierte sie die nächste Flasche. Sie wusste, sie war leichtsinnig. Aber es gab nichts, was sie stattdessen hätte tun können. Sie war eine Gefangene, und selbst wenn sie floh, würde sie niemals sich selbst gehören. Sie spürte, wie die Zeit, die man ihr gelassen hatte, auslief. Was hatte sie schon zu verlieren? Winzige, silberne Tropfen bildeten sich auf dem Flaschenrand aus dunkelblauem Glas. Elsa streckte die Zungenspitze aus, um sie aufzulecken.
    „ Hör auf!“, rief eine helle Stimme.
    Sie gehörte einem Mädchen, das im Eingang des Labors stand. Ein kleines Ganduup-Mädchen, den Gewändern nach zu urteilen.
    „ Warum?“, fragte Elsa. „Weißt du, was das ist?“
    „ Ja“, sagte das Mädchen. „Ich zeige es dir.“
    Das Mädchen ging fort und Elsa folgte ihr. Sie stiegen in tiefere Keller hinab, mit jedem Schritt wurde es kälter und dunkler.
    „ Hast du kein Licht?“, fragte Elsa.
    „ Wir brauchen kein Licht“, sagte das Mädchen.
    Elsa sah nur noch das weiße Gewand ihrer Führerin schimmern, ansonsten war alles schwarz geworden und der sonst so warme Boden eiskalt.
    „ Wir sind bald da“, erklärte das Mädchen.
    Es klang unbekümmert.
    „ Achtung, jetzt kommt eine steile Treppe. Halte dich an der rechten Wand fest. Links ist keine.“
    Elsa verlor das Mädchen aus den Augen, weil sie langsamer wurde. Als sie glaubte, das helle Gewand wieder aufleuchten zu sehen, wurde sie verwirrt: Lauter fahle Flecken waren da, die Lichter von liegenden Gestalten, die in endlosen Scharen hier unten aufgebahrt waren. Ein stumpfes Licht ging von ihnen aus, ihre Gesichter leuchteten wie Monde in einer dunstigen Nacht.
    „ Wer ist das?“, fragte sie.
    Das Mädchen geisterte zwischen den Liegenden hindurch, fuhr der einen oder anderen Gestalt über die Stirn. Hauchte sie an. Die Augen des Mädchens waren gleißend geworden wie der Traumstoff, den die Ganduup in den hellen Räumen webten.
    „ Das sind meine Ganduup!“
    „ Deine?“
    „ Ja. Hier leben sie. Warum, glaubst du, können sie wie Geister schweben? Sie sind Geister. Zum größten Teil. Sie

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