Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)
sie hätte nicht geglaubt, dass dieses Steinbild einen Ton von sich geben konnte.
„ Wie wird man zur klügsten Frau des Landes?“, fragte Elsa, da ihr nichts Besseres einfiel. „Ich meine, wie überzeugt man ein ganzes Land davon, dass man klug ist? Selbst, wenn man wirklich klug ist. Du bist es ja wahrscheinlich.“
Morawena blieb ungerührt. Keine Regung ihres Körpers verriet, ob sie zuhörte.
„ Sommersprossen sind groß in Mode gekommen, nur wegen dir, sagt man. Ich habe in Brisa Frauen gesehen, die sich die Sommersprossen ins Gesicht gemalt haben. Nur damit sie dir ähnlich sehen. Magst du deine Sommersprossen?“
Elsa wartete ab und fuhr dann fort
„ Gaiuper sagt, du hättest deinen Geliebten umgebracht. Hat dir sein Tod etwas ausgemacht? Bestimmt. Bist du so verzweifelt, weil er tot ist? Du hättest ihn heiraten können, aber das wolltest du ja nicht, habe ich gehört. Sie wollten dich beide heiraten. Ich würde Nada nicht heiraten wollen und ich frage mich, warum es Amandis tun will. Nicht, dass ich etwas gegen ihn hätte. Er war nett, er hat sich solche Sorgen um die Antolianer gemacht und hat sein Leben riskiert, um nach ihnen zu sehen. Aber er ist doch schon recht alt, oder? Und so groß und breit. Ich wette, er erdrückt Amandis, wenn er sie in die Arme nimmt. Wenn nicht, dann erstickt sie beim Küssen in seinem Bart. So einen Bart habe ich vorher noch nie gesehen! Sah Gerard genauso aus? Waren sie sich ähnlich? Immerhin waren sie Brüder.“
Morawena drehte ganz leicht den Kopf zur Seite. Es mochte eine Einbildung sein, doch Elsa glaubte, dass Morawena den Kopf hatte schütteln wollen.
„ Wen von beiden mochtest du lieber?“
Diesmal wandte Morawena eindeutig den Kopf und schaute aus dem Fenster. Das schwache Licht spiegelte sich in ihren Augen, nur ein bisschen, aber ein bisschen genug, um wie ein Splitter auszusehen. Ein Splitter einer anderen Welt, einer Erinnerung.
„ Es heißt, du wärst traurig gewesen, Morawena. Warst du traurig, weil du ein Rabe warst?“
„ Es ist traurig, anders zu sein“, erzählte Morawena dem Fenster. „Ich lebe immer woanders, ich sehe andere Dinge mit meinen Augen, ich kenne kein Ende. Ich hasse die Endlosigkeit, ich verachte sie. Dieser Himmel da draußen, der hört auf. Das große Meer da, das hört auch auf. Aber ich, ich höre nie auf.“
Elsa war überrascht, dass Morawena tatsächlich gesprochen hatte. Und wie sie gesprochen hatte! Aus ihrem Mund klang es nach einer großen Sache, ein Rabe zu sein. Aber sie war ja auch ein willensstarker Rabe und nicht so ein zimperlicher Abglanz wie Elsa.
„ Es sei denn“, widersprach Elsa nun, „die Ausgleicher wenden ihr Verfahren an. Es heißt, sie könnten uns auslöschen.“
„ Was für ein unglaubliches Versprechen!“
„ Sie sind überzeugt davon, dass sie es können.“
„ Ja, und die Rabendiener sind überzeugt davon, dass sie mich zu Ende und Anfang führen können. Aber zum Leben selbst, zu dem Leben, das ich verpasst habe, kann mich niemand führen. Stell dir ein Abendessen vor: In deinem Weinglas schwimmt der blaue Himmel, auf deinem Teller liegt eine ganze Welt voller Berge, Dörfer und Straßen. Aber dein Gegenüber isst Brota und spricht von deinen Augen. Als ob meine Augen das wären, was ich bin. Er denkt, ich esse Brota, so wie er, und er denkt, ich hätte wunderbare Augen. Dabei esse ich nichts und meine Augen sind leer. Sie sehen nur so schön aus, weil sie ihn spiegeln, ihn und das ganze Leben rundherum.“
„ Dann sind wir unterschiedlich“, sagte Elsa. „Ich esse Brota und ich habe noch nie eine Welt auf meinem Teller gehabt. Meine Augen lassen die Leute kalt, es sei denn, sie finden meinen Blick unerfreulich.“
Morawena lächelte und zum ersten Mal fand Elsa, dass sie wirklich schön war.
„ Du wirst die Wahrheit noch lernen“, sagte Morawena. „Sie wird dir nicht gefallen. Es gibt keine Gemeinsamkeiten zwischen uns und den anderen. Wir stürzen sie nur ins Verderben.“
„ Hast du Gerard ins Verderben gestürzt?“
„ Ja. Und obwohl ich so untätig bin, obwohl ich in einer anderen Welt sitze und die Hände in den Schoß lege, werde ich auch Nada umbringen.“
„ Wie denn?“
„ Dadurch, dass ich in sein Leben getreten bin. Dadurch, dass er an mich denkt. Es gab Krieg in Sommerhalt, habe ich gehört?“
„ Meine Schuld“, sagte Elsa.
Morawena schaute wieder zum Fenster.
„ Sag, Morawena, willst du mit den Rabendienern nach Kundrien
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