Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)
widerstrebenden Raben in Richtung des Turms, in dem Elsa vor Jahren eingesperrt worden war. Sie landete auf dem Balkon, der das Turmzimmer umgab, und betrat ihr ehemaliges Gefängnis durch die offene Tür in Menschengestalt.
Ein Fenster war zerbrochen und die Einrichtung des Zimmers leicht verwüstet. Hier hatte noch niemand aufgeräumt nach der großen Schlacht, die nun einige Monate zurückliegen musste. Elsa störte es nicht. Sie kroch unter die staubige Bettdecke ihres alten Nachtlagers und schlief schnell ein.
Sie musste tief geschlafen haben, denn sie fühlte sich erholt, als sie wieder aufwachte. Es war immer noch dunkel, daher drehte sie sich um, steckte ihren Kopf tief in das nach Alter und Feuchtigkeit riechende Kissen und rutschte über einen Augenblick des Schlafs in einen seltsamen Traum hinein. Der Traum fühlte sich echt an, er war noch deutlicher als es Erinnerungen normalerweise sind.
Sie lag in demselben Bett wie jetzt auch, aber sie war krank und hatte Angst. Ein Mädchen saß an ihrem Bett, dessen Gesicht so aussah wie ihr eigenes, nur viel jünger. Dann sprach es aus diesem Gesicht und die Stimme war fremd. Fremd und lebhaft – das Mädchen musste Ulissa sein. Elsa verstand nicht, was Ulissa sagte. Noch jemand war da, er saß neben Ulissa. Vor ihm fürchtete sich Elsa am meisten. Er sprach nicht und auch sein Gesicht konnte sie nicht erkennen. Die Situation hielt an und Elsa kämpfte. Ob sie gegen ihre Angst kämpfte, gegen das Fieber oder darum, aufzuwachen, das wusste sie nicht.
Als es ihr endlich gelang, der Situation zu entrinnen, war die Luft im Turmzimmer kalt und frisch. Schwaches Morgenlicht drang zu den Fenstern hinein und Elsa atmete tief durch. Es war nicht wie sonst, wenn sie aus einem schlechten Traum erwachte. Sie war nicht erleichtert. Zwar war sie frei von den Bildern, die sie gerade noch beherrscht hatten, doch fühlte es sich an, als stecke ihr Fuß noch in der Falle fest. In einer Falle, die in einem Ort verankert war, den Elsa unmöglich erreichen konnte.
Sie sah dichte Wolken über den Himmel ziehen. Hier und da waren Flecken von blassem Blau zu erkennen, was hoffen ließ, dass heute die Sonne zum Vorschein kommen könnte. Elsa wickelte sich fester in ihre Decke, da der Wind durch die Tür und das zerbrochene Fenster zog. Er wirbelte die Blätter auf, die sich am Boden des Zimmers angesammelt hatten, und Elsa lauschte dem Geheule des Windes und dem Rascheln, ohne etwas zu tun. Sie blieb nur liegen, gelähmt von ihrem Traum und der Unlösbarkeit der von Gaiuper gestellten Aufgabe. Als es noch heller wurde und Elsas Augen im Zimmer umherwanderten, fiel ihr Blick auf die alte Zeichnung, die über der Waschschüssel hing. Sie flatterte ab und zu im Luftzug. Darauf war das schlecht gezeichnete Mädchen zu sehen, dessen Anblick Elsa schon vor Jahren so seltsam berührt hatte. Dieses Mädchen, unter dessen Bildnis der Name „Agnes“ stand, musste einmal hier gelebt haben. Doch sie lebte längst nicht mehr, das hatte Elsa im Gefühl. Sie war bestimmt tot, womöglich spukte sie sogar, deswegen war das Turmzimmer auch so ein verlassener Raum, den niemand benutzte.
Elsa rutschte aus dem Bett, mitsamt der um sie gewickelten Decke, da der Morgen so kalt war, und stellte sich neben eines der Fenster. Vorsichtig schaute sie hinaus, bedacht darauf, von niemandem entdeckt zu werden. Das Schloss oder große Teile davon waren eine Baustelle. Elsa sah Holzgerüste, zerstörte und teils neu gedeckte Dächer, geschwärzte und geflickte Mauern, immer wieder kaputte Fenster und Stützkonstruktionen, die schwache Mauern absichern sollten. Es gab aber auch unversehrte Gebäude, darunter den ältesten Teil des Schlosses, ein zentral gelegenes, mehrstöckiges Gebäude mit schiefen Erkern und mehrfach geflickten Dächern. In einem dieser Gebäude hatte der Kampf mit den Ausgleichern stattgefunden und von dort aus war Elsa auch geflohen.
Von den Gärten, die das Schloss einmal umgeben hatten, war nicht mehr viel übrig. Gärtner hatten schon ihr Bestes getan, um neue Rasenflächen, Hecken und Beete anzulegen. Doch von oben aus betrachtet sah das Ganze noch kahl und trostlos aus. Weiter draußen durchzogen Gräben die Ebene. Ob sie noch aus der Schlacht stammten oder die Grundlage für neue, schützende Außenanlagen waren, konnte Elsa nicht erkennen.
Die Sonne kletterte nun über die Hügel im Osten und betupfte das verwundete Schloss mit goldgelben Lichtern. Es erwachte zum Leben und sah schon
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