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Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)

Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)

Titel: Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Kammer
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langsam, damit ihm die Buchstaben nicht entwischten, „keine Antwort. Auf die Frage. Keine Antwort auf die Frage, die ich bin. Jawohl.“
    Elsa rückte näher heran. Immerhin hatte sie einen Raben vor sich, der zu Lebzeiten viel nachgedacht hatte und sicher mehr wusste als sie. Darum stellte sie ihm eine Frage, die sie gerne mal geklärt haben wollte.
    „ Nehmen wir mal an“, sagte sie, „du könntest in die Alte Welt zurückkehren, würde dir das etwas nützen?“
    Er nickte. Aber Elsa hatte Zweifel, ob er sie verstanden hatte.
    „ Du weißt, was ich meine? Diese Welt, die es gab, bevor sie untergegangen ist. Verstehst du mich?“
    Er schaute sie skeptisch an.
    „ Da kannst du nicht hin“, sagte er.
    „ Warum nicht?“
    „ Weil … weil du tot und lebendig sein musst. Gleichzeitig. Sonst geht es nicht.“
    Elsa schaute Anbar an. Der hörte gebannt zu. Dabei ergab es keinen Sinn, was der betrunkene Dichter da sagte.
    „ Warum muss ich denn tot und lebendig sein?“, fragte sie. „Wozu?“
    „ Tot, damit du nicht stirbst“, erklärte er, „und lebendig, um anzukommen. Ist doch klar.“
    „ Wenn ich das könnte – was würde dann passieren?“
    Er antwortete nicht. Er seufzte nur und bekam Schluckauf. Elsa ließ ihn dreimal aufstoßen, in der Hoffnung, dass er sich mit der Antwort Zeit ließ, doch es kam nichts.
    „ Also noch mal von vorn“, sagte sie. „Ich bin tot und lebendig. Wohin gehe ich dann?“
    „ Hindurch“, sagte er und machte mit den Händen eine komische Bewegung in der Luft.
    „ Wodurch? Lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen!“
    „ Durch Schmerz, Zerstörung, Zerrissenheit, Nacht …“
    „ Das ist mir zu pathetisch!“, sagte Elsa ungeduldig. „Geht es nicht etwas genauer? Wohin muss ich gehen? Wo ist der Eingang?“
    Der Dichter schüttelte den Kopf. Er war den Tränen nah.
    „ Ich war so nah dran“, murmelte er. „Ich war ganz nah …“
    Elsa wollte ihn ja nicht noch unglücklicher machen, als er ohnehin schon war. Aber sie wusste auch, dass sie das Buch hergeben musste und ihn heute wahrscheinlich zum letzten Mal sah. Wenigstens einmal wollte sie es noch probieren.
    „ Leider verstehe ich dich nicht“, sagte sie leise und behutsam zu ihm. „Nehmen wir mal an, ich bin tot und lebendig genug, um hindurchzukommen – was passiert dann?“
    „ Dann weißt du es“, sagte er. „Dann weißt du es endlich.“
    Er rieb sich die Tränen aus den Augen und tat das, was er immer zu tun pflegte, wenn er Elsa lange genug durcheinander gebracht hatte: Er verschwand. Ganz langsam wurde er zu einem der abendlichen Schatten, die nun im Zimmer lagen, und dann war er weg.
    „ Das macht er jedes Mal!“, rief Elsa aufgebracht. „Er redet wirr und ich ärgere mich. Kann er mir nicht einfach sagen, worum es geht?“
    Anbar starrte immer noch dahin, wo der ehemalige Rabe gesessen hatte.
    „ Das ist es also“, sagte Anbar. „Er hat sich in das Buch hineingeschrieben.“
    „ Ja, und zwar reichlich schlecht“, sagte sie. „Statt dass er den Mund aufmacht und die Dinge beim Namen nennt – nein, es muss möglichst unverständlich sein, weil er sich für einen großen Künstler hält!“
    „ Ich glaube …“, begann Anbar und brach ab. Er musste lachen.
    „ Was ist?“
    „ Er ist nun mal kein Istländer“, sagte er. „Deine Ansprüche an einen prophetischen Geist sind haarsträubend. Weißt du nicht, dass er nur ein Bruchteil seiner selbst ist? Ein bisschen Bewusstsein, das er in seinem Buch verewigt hat und das in der Lage ist, mit dir Kontakt aufzunehmen? Er war ein Genie! Solche Erscheinungen sind sehr selten und meistens sprechen sie unverständlich. Sie nuscheln oder benutzen fremde Sprachen und ganze Sätze bringen sie schon gar nicht zustande. Dieser Prophet ist ein Musterknabe, also sei nicht so schrecklich undankbar!“
    „ Was hat er uns denn prophezeit? Kannst du etwas damit anfangen?“
    „ Ich meine zu erkennen, dass es für einen Raben kein Vergnügen ist, in die Alte Welt zurückzukehren. Trotzdem fürchte ich, dass es auf irgendeine bizarre Weise möglich ist. Das Rätsel seines Daseins scheint einen Raben so sehr zu beunruhigen, dass er versucht ist, all die Qualen, die mit einer Heimkehr verbunden sind, auf sich zu nehmen. Unser alkoholisierter Freund hier hätte es getan, wenn er bloß herausgefunden hätte, wie man gleichzeitig tot und lebendig sein kann. Ich bin zuversichtlich, dass Gaiuper auch nicht weiß, wie man tot und lebendig sein kann.

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