Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)
Alle.“
Und das war die Wahrheit. Leider wollte sie tatsächlich gerne aus dem Schloss herauskommen, ohne gesehen zu werden und ohne sich verwandeln zu müssen. Wenn sie nur irgendeine Sicherheit hätte, dass in den unterirdischen Gängen weder Ausgleicher noch Möwen lauerten, um sie einzufangen.
„ Ich habe eine andere Idee“, sagte sie. „Sie ist weniger gefährlich für mich. Deine Hilfe brauche ich leider trotzdem.“
„ Welche Hilfe?“
„ Ich fliege, du bringst mir das Buch. Wenn es dunkel ist.“
„ Gut. Das geht auch. Es ist sogar praktischer. So langsam, wie du läufst, hätten wir die halbe Nacht gebraucht.“
„ Ich bin nicht langsam.“
Die Sonne hatte ihn wieder eingeholt. Er drehte den Kopf, damit sie ihn nicht blendete, und erklärte:
„ Quälend langsam. Jede Minute war damals wichtig, aber du bist vor dich hin getrottet wie ein Schaf.“
„ Wenn Romer nicht so freundlich zu mir gewesen wäre, im Gegensatz zu dir, dann wäre ich stehengeblieben und hätte mich nicht mehr von der Stelle gerührt.“
„ Ich hätte dich schon zum Laufen gebracht“, sagte er. „Aber so war es mir angenehmer. Romer hat sich beliebt gemacht und ich konnte in Ruhe nachdenken.“
Elsa schaute hinaus. Es würde noch Stunden dauern, bis die Sonne hinter der Bergkette am Horizont verschwinden würde.
„ Wirst du eigentlich nicht gebraucht?“, fragte Elsa. „Als Ersatzvater der Braut? Oder Bruder, wenn’s dir lieber ist?“
„ Nein, werde ich nicht. Beschäftigen könnten sie mich, aber dazu habe ich keine Lust. Wenn es dir also nicht unerträglich ist, werde ich mich hier verstecken, bis es dunkel wird. Du liest am besten ‚Bolhins Reisen’ bis zur letzten Seite, bevor du es wieder hergeben musst. Es betrifft dich weit mehr als mich. Ich störe dich auch nicht.“
„ Ja, klingt sinnvoll“, sagte sie, auch wenn es ihr fast unmöglich erschien, sich in dieser Situation auf ein umständlich geschriebenes Buch zu konzentrieren. Anbars Interesse galt schon nicht mehr ihr, sondern dem Bücherstapel, der auf dem Tisch lag. Gerade zog er sich Nadas Buch über Feuersand heraus, setzte sich damit am Tisch zurecht und begann zu lesen. Das ermutigte Elsa, einen Becher Holundersaft zu trinken und ein Brota in die Hand zu nehmen.
Während sie ihr Brota aß, blätterte sie und suchte nach der Stelle, an der sie aufgehört hatte zu lesen. Bolhin war zuletzt aus dem Land der Armut geflohen und trieb nun in einem Boot auf dem Meer. Ja, das war die richtige Stelle. Sie warf Anbar einen prüfenden Blick zu, ob er auch wirklich mit Nadas Legenden beschäftigt war. Es sah ganz so aus. Er saß völlig still, die Augen auf sein Buch gerichtet, von der Sonne beschienen wie ein ehrwürdiges Standbild in einem Lesesaal. „Der Lesende“ würde die Statue heißen, aber irgendwann musste der Lesende umblättern, wenn er wirklich las. Elsa konnte nicht anders, als abwartend in seine Richtung zu schielen. Blätterte er um? Oder würde er nach zehn Minuten immer noch die gleiche Seite anstarren, was beweisen würde, dass er doch nicht las, sondern in Wirklichkeit Pläne schmiedete, wie er sie möglichst geschickt in einen Hinterhalt locken könnte? Dann geschah es – er blätterte um. Das beruhigte sie weitestgehend und so begann sie zu lesen.
KAPITEL 17
Bolhin trieb in seinem Boot auf dem Meer. Er hatte keine Vorräte bei sich, der Wind war schwach, das Meer still. Er fürchtete, es könnte seine Schuld sein, dass sich nichts bewegte. Sein letztes Abenteuer hatte ihn entmutigt. Er dachte nach, was er sonst nie tat. Er fasste sein Leben zusammen – insbesondere das in der Fremde – und kam zu dem Schluss, dass es keinen Schluss gab. Er würde nie mehr nach Hause zurückkehren, es sei denn, der unwahrscheinlichste Zufall wehte ihn dorthin. Diese Erkenntnis vermochte sein Boot nicht zu bewegen, darum legte er sich hin und die Sonne schien auf seine geschlossenen Lider.
Elsa hob den Blick. Anbar hatte unterdessen dreimal umgeblättert und einmal am Ende des Buches etwas nachgeschaut. Er war wirklich beschäftigt. Das war angenehm. Sie klopfte sich die Brotakrümel vom Kleid und fuhr fort.
Bolhin hörte eine Möwe schreien, eine Möwe auf dem offenen Meer, die sich anscheinend über seinem Boot festgeflogen hatte, denn ihr Gekreische nahm kein Ende und wurde nicht leiser. Er öffnete die Augen und merkte, dass er die Möwe verstehen konnte, wenn er ihren Schnabel beobachtete. Sie erklärte ihm, dass er verloren
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