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Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)

Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)

Titel: Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Kammer
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gegangen war und sie ihm helfen konnte. Er war bereit, ihre Hilfe anzunehmen. Die Möwe überließ ihm eine weiße Feder, die er in der Hand halten sollte, während er sein Boot in Richtung der untergehenden Sonne lenkte.
    Nachdem sie fortgeflogen war, legte er sich auf den Bauch und versuchte das Boot mit einer Hand zur Sonne hin zu bewegen. Darüber schlief er ein. In der Nacht wachte er wieder auf und sah, dass sein Boot durch einen schwarzen Himmel voller Sterne flog. Die Luft war so kalt, dass er zitterte. Das Boot wurde von unsichtbaren Mächten gezogen, immer höher, immer tiefer in den Nachthimmel hinein. Er hörte Musik oder Gesang und fürchtete sich. Man sollte keiner Möwe trauen, dachte er, vor allem nicht, wenn sie spricht. Ein plötzlicher Knick in der Flugbahn nahm ihm den Atem: Es ging nicht mehr aufwärts, sondern abwärts, steil und schnell, und er verlor das Bewusstsein. Da mochte es knallen, ein Aufprall stattfinden, er wusste es nicht genau, spürte nur den Sand unter seinem Gesicht, als er die Augen wieder öffnete.
    Es war Tag und er lag in einer Wüste. Sandberge, so weit das Auge reichte. Er beglückwünschte sich. Nun hatte ihn die Möwe tatsächlich davor bewahrt, auf dem Meer zu verdursten. Er versuchte sich auszurechnen, wie lange es dauern würde, bis er bei lebendigem Leib mumifiziert wäre, doch er wurde sehr bald abgelenkt: eine Karawane zog über den Horizont und kam auf ihn zu. Zum Glück bestand sie weder aus Räubern noch aus Menschenfressern. Die Leute brachten ihn in eine Wüstenstadt, die es in sich hatte. Was zuerst wie ein Dorf aussah, entpuppte sich als die Spitze eines Labyrinths unter der Erde. Da gab es riesige kühle Hallen, deren Wände die Geschichte der Welt erzählten. Bolhin bewunderte die Schlichtheit seiner Gastgeber. Kein anderes Land, das er bisher bereist hatte, war so unkompliziert und gleichzeitig so hoch entwickelt gewesen. Für einige Monate vergaß er, dass er auf Reisen war, und versuchte zu lernen.
     
    Elsa und Anbar hoben gleichzeitig den Kopf. Seit sie begonnen hatten zu lesen, mochten fast zwei Stunden vergangen sein. Die Sonne näherte sich dem Horizont, sie war goldorange geworden und über den Himmel zogen milchige Schwaden mit rosaroten Rändern. Die Luft war deutlich kühler, doch immer noch mild. Alles in allem war die Stimmung friedlich, hätten sie nicht beide im gleichen Moment gehört, dass jemand die Treppe zum Turmzimmer hinaufstieg. Elsa dachte sofort, dass es eine Möwe sein musste. Jemand, der Ärger machte. Anbar dachte etwas Ähnliches, dem angespannten Gesichtsausdruck zufolge.
    Der Besucher machte sich nicht die Mühe, die Tür zu öffnen. Er schritt einfach hindurch. Der Mann befand sich in einem schlimmen Zustand: Sein Gesicht war aufgedunsen, auf einer Seite sogar aufgeschlagen und von Blut verkrustet. Er schwankte, seine Kleidung hing ungepflegt und teilweise zerrissen an ihm herunter. Er hatte sich sehr verändert, seit Elsa ihn das letzte Mal gesehen hatte. Der Rabendichter sah ganz so aus, als hätte er mehrere Nächte in einer Kneipe verbracht, um sich dort den Kummer von der Seele zu saufen, und das ohne Erfolg. Nun warf er sich auf den Boden, lehnte sich schwungvoll an das Regal in seinem Rücken und vergrub seinen Kopf irgendwo zwischen Ellenbogen und Knien.
    Anbar war mehr als verblüfft. Er starrte erst den Mann an und dann Elsa. Elsa wunderte sich kaum. Zumindest nicht über die Anwesenheit des Dichters, wohl aber über seinen Zustand. Sie wollte wissen, was mit ihm passiert war. Sie stand von ihrem Bett auf, ging neben dem Dichter in die Knie und rüttelte ihn sanft an der Schulter.
    „ Hallo? Was ist denn mit dir passiert?“
    Der Dichter hob den Kopf und schaute sie angestrengt an. In seinem Zustand erkannte er wahrscheinlich nicht viel.
    „ Es hat keinen Sinn“, sagte er mit Mühe. „Hörst du? Leben hat keinen Sinn. Sterben hat auch keinen Sinn.“
    Elsa ließ ihre Hand auf seiner Schulter liegen. Er tat ihr leid.
    „ Das wird schon wieder. Wenn du erst mal deinen Rausch ausgeschlafen hast …“
    „ Nein, nicht ausschlafen. Nie mehr ausschlafen“, brabbelte er. „Hat keinen Sinn.“
    Elsa schaute zu Anbar hin und zuckte mit den Achseln. Der Dichter, der mal ein Rabe gewesen war, steckte eindeutig in der Krise.
    „ Was ist denn nun dein Problem?“, versuchte sie es noch einmal.
    Er hob den Kopf und sprach in die Luft. Dabei musste er sich sehr konzentrieren.
    „ Es gibt nun mal“, sagte er sehr

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