Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)
sich auf und spähte in Menschengestalt ins Haus hinein. Es war leer. Der Stein, fast rund und hellgrau, lag auf dem Tisch, dort, wo sie ihn vor dem Einschlafen hingelegt hatte. Sie ging mit schnellen Schritten in die Hütte hinein, steckte den Stein in ihre Rocktasche und horchte. Es war nicht still. Sie vernahm ein Rascheln, ein unheimliches Rascheln, das ihr verriet, dass sie einen großen Fehler gemacht hatte.
Sie sah sich aufgeregt um. Es war nichts zu sehen, doch das Wispern und Knistern, das nichts Gutes verhieß, kam von allen Seiten. Als sie ihren Blick in den Zwischenraum gleiten ließ, entdeckte sie etwas Erschreckendes außerhalb der Fenster: Fäden flogen im Wind, Gespinste von Fäden. Elsa verschenkte wertvolle Zeit, indem sie starr vor Schreck auf der Stelle verharrte. Sie wusste überhaupt nicht, was sie tun sollte. Selbst wenn sie, ohne ein Tor zu benutzen, diese Welt einfach hätte verlassen können – und das war ihr eigentlich gegeben, nur dass sie es nicht willentlich vermochte – aber selbst wenn es ihr gelungen wäre, hätte sie doch den Zwischenraum betreten müssen und der saß allem Anschein nach voller Möwen. So wählte sie den naheliegendsten Weg, auch wenn er hoffnungslos war. Sie verließ die Hütte durch die Tür, um sich gleich darauf ihrer vollkommenen Hilflosigkeit bewusst zu werden.
Wie ein feiner Nieselregen senkte sich das feinste Netz aus Zwischenraumfäden auf sie herab, berührte ihr Gesicht und ihren ganzen Körper, bannte ihre Gestalt und beraubte sie jeglicher wunderbarer Kräfte, die sie womöglich aus ihrer Not hätten befreien können. So furchtbar fühlte es sich an, in ihrer Weite beschränkt zu sein und auf sich selbst zurückzufallen, auf eine schwache Elsa aus Istland, dass sie auf die Knie stürzte und heftig atmete. All das ereignete sich in einem Augenblick. Im nächsten waren da Arme und Hände, die sie festhielten und fesselten. Sie starrte ungläubig auf ihre eigenen Hände, die auf einmal mit einem Seil zusammengebunden waren, so fest, dass es schmerzte. Warum bloß hatte sie das getan? Warum hatte sie den Stein geholt? Warum nur hatte sie keinen einzigen Blick in den Zwischenraum geworfen, bevor sie ein Mensch geworden war? Sie verstand es nicht. Sie starrte ihre Fesseln an und rührte sich nicht, gelähmt von Reue und Angst, angesichts dessen, was da nun kommen würde. Schließlich hob sie den Kopf, um dem Grauen ins Auge zu sehen. Doch die Person, die sie sah, war eine andere als sie erwartete hatte.
„ Warum tust du nicht, was man dir sagt?“, fragte Sistra.
Aufrecht stand sie da und sah zum Fürchten aus. Ihr hellrotes Haar trug sie wie meist zu einem Knoten gebunden und das blasse Gesicht war über und über von Sommersprossen bedeckt. Trotzdem wirkte sie kein bisschen verspielt oder fröhlich, sondern nur streng. Sie hatte ein schönes Gesicht, ein unbewegtes mit graugrünen Augen. Jetzt, da Sistra so vor ihr stand, erkannte Elsa, wie ähnlich sie Anbar sah. Beide hatten den gleichen Blick, diese Art, in einen hineinzuschauen, ohne sich selbst dabei zu verraten.
„ Komm nie mehr zurück – hat er das nicht gesagt? Ich hatte ihm versprochen, nicht einzugreifen, bis das Buch dort ist, wo wir es haben wollten. Ich wusste genau, dass er dich gleich danach wegschickt, weil er meint, du könntest deinen Feinden entkommen. Dass das ein Irrtum ist, war mir von vornherein klar, aber dass es so schnell gehen würde, überrascht sogar mich!“
Elsa fehlten alle Worte. Sie erwartete nur ihr Urteil. So kam sie sich nämlich vor: wie vor Gericht.
„ Ich kann nicht zulassen“, fuhr Sistra fort in ihrer Rede, „dass du dich noch mal einfangen lässt, von den Ausgleichern, von den falschen Möwen oder von Gaiuper. Ich muss dich in sichere Verwahrung nehmen!“
Was damit gemeint war, wusste Elsa. Hundert Jahre Käfig – konnte es sein, dass ihr das wirklich bevorstand? Dieses furchtbare Schicksal?
„ Anbar würde das nicht wollen“, sagte Elsa. „Es ist falsch, so etwas zu tun!“
„ Es ist der sicherste Weg, dich vor dem Verfahren zu schützen“, erwiderte Sistra. „Also dürfte es Anbar recht sein. Eine Sorge hat er dann weniger. Wenn es auch nicht angenehm ist, so wirst du doch eines Tages in deinem nächsten Leben, das du mir zu verdanken hast, vergessen haben, dass du gelitten hast. Und zähle jetzt nicht auf mein Mitgefühl, ich habe meine eigene Schwester eingesperrt, ich kann jedes Geschöpf in einen Käfig sperren!“
Sie schnippte
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