Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)
die Suche nach der Bank. Es war eine Bank mit Polstern und womöglich konnte sie tatsächlich darauf liegen, ohne dass ihr alles weh tat. Sie legte das Buch und ihren Stein auf den Tisch neben der Bank, und da der Stein keine Wärme mehr bekam, verblasste er schnell. Als sie ihren Kopf auf das selbst gebastelte Kissen legte, war es stockdunkel. Sie fand es nun gar nicht mehr so gruselig, mit Anbar alleine im Dunkeln zu sein. Eigentlich war er ja immer ganz ehrenhaft gewesen und sie fühlte sich sicher. So sicher, dass ihre Gedanken allmählich den Zusammenhang verloren, und sie, ohne es zu merken, einschlief. Einmal wachte sie auf und wunderte sich über die Schwärze ringsum. Dann aber erkannte sie zwei Lichtstreifen, dort, wo die Fenster waren. Es war so still, dass sie gleich wieder einschlief. Erst spät in der Nacht begann sie zu träumen.
Wieder war sie Agnes. Agnes, die sich in den Kissen herumwarf, fiebrig und krank. Ulissa beugte sich zu ihr herab und flüsterte:
„ Nicht aufgeben! Bleib bei uns, Agnes!“
Agnes hatte die Augen geschlossen. Sie wollte nichts sehen und sie wollte nicht gesehen werden.
„ Bitte, Anbar!“, hörte sie Ulissa sagen. „Hol Segerte! Bitte, bitte!“
„ Du weißt, dass das nicht geht“, antwortete er.
„ Was heißt hier, es geht nicht?“, rief Ulissa schrill. „Du bringst sie um, wenn du ihn nicht holst! Ohne Segerte wird es nichts mehr! Jetzt geh schon!“
Nichts geschah. Agnes fühlte nur Hitze. Ich war schrecklich heiß und ihr ganzer Körper tat ihr weh. Jemand legte ihr einen kühlen, feuchten Lappen auf die Stirn. Sie wusste, wer das tat. Es war der böse Mann, vor dem Ulissa sie gewarnt hatte. Der Ausgleicher, der sie immer so forschend ansah, weil er ahnte, dass etwas mit ihr nicht stimmte.
„ Du willst ja, dass sie stirbt!“, zischte Ulissa. „Du magst sie auch nicht. So wie alle anderen!“
„ Rede keinen Unsinn. Wie soll ich Segerte in dieses Zimmer bekommen, ohne dass ihn jemand sieht? Es ist verboten und Gesetze werden überwacht. Mal abgesehen davon, dass er aus denselben Gründen nicht bereit sein wird, mitzukommen.“
„ Ach ja? Aber wenn es eine von uns wäre, dann würdest du Segerte in dieses Zimmer bekommen, habe ich recht? Mich würdest du nicht krepieren lassen!“
Anbar senkte die Stimme.
„ Glaubst du, du tust ihr einen Gefallen, wenn du hier so herumkeifst? Sie muss denken, dass sie dem Tod geweiht ist. Dabei sind es nur ein paar Knochenbrüche.“
„ Dafür sieht sie aber ziemlich sterbenskrank aus“, widersprach Ulissa in der gleichen Lautstärke wie zuvor. „Merkst du nicht, wie hoch ihr Fieber ist?“
Wieder blieb es still und nichts geschah. Agnes fühlte ein Flimmern hinter ihren Augen. In ihrem Schädel pochte es. Ohne es zu wollen oder es geplant zu haben, öffnete sie die Augen. Sie sah Anbar, der sich über sie gebeugt hatte und sie beobachtete. Nun prüfte er ihre Temperatur, indem er seinen Handrücken an ihre Wange legte. Dann stand er wortlos auf und ging.
Sie wusste nicht, wie viel später es war, als er zurückkam. Er hatte einen Mann bei sich mit einer großen, krummen Nase. Der Mann hatte auch lange Haare, so wie Anbar, nur waren sie grau und nicht blond. Er hatte einen kleinen Koffer bei sich, den er auf den Stuhl neben dem Bett stellte und öffnete. Dann holte er Geräte heraus, die sich sehr kalt anfühlten, als er sie damit abtastete. Ulissa saß die ganze Zeit am Fußende des Bettes und beobachtete den alten Mann ängstlich.
„ Was ist mit ihr, Segerte? Warum geht es ihr so furchtbar schlecht?“
Segerte schüttelte den Kopf, nahm den Lappen von Agnes’ Stirn und legte stattdessen seine Hand darauf. Das fühlte sich sehr gut an. Viel zu gut.
„ Es tut mir leid, Ulissa“, sagte Segerte ganz leise. Doch Agnes verstand ihn deutlich. „Sie will sterben. Einen Menschen, der nicht leben möchte, kann ich nicht gesund machen. Das ist das Problem. Die Verletzungen sind mittelschwer, die würden wir hinbekommen, wenn sie etwas mehr Lebenswillen hätte. Es ist mir ein Rätsel, warum es so schnell bergab mit ihr geht.“
Diese Auskunft veranlasste Ullissa, vom Bett zu springen, Segerte zu umrunden, und ihren Mund an Agnes’ Ohr zu drücken.
„ Hast du gehört? Du musst dir nur vornehmen zu leben! Dann wird alles gut!“
Doch Agnes hatte etwas Verlockenderes gespürt. Ob es an Segertes Hand lag, die so eine Ruhe in ihrem Körper verströmte, oder ob sie eine kritische Grenze überschritten hatte,
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