Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)
hinter der es kein Zurück mehr gab – sie wollte nur noch Frieden. Sie hatte ihn schon geschmeckt, er lag auf ihrer Zunge. Frieden, Schlaf und Vergessen. Wie süß musste das Vergessen sein, wenn man so ein Heimweh hatte wie sie und wusste, dass die Heimat unerreichbar war! Wie gut war ihr zumute, wenn sie alles losließ. Ein letztes Mal ließ sie ihren Blick schweifen – über Segerte, der sie mitleidig ansah, und über Ulissa, die immer noch erwartete, dass Agnes plötzlich wieder munter werden würde. Zuletzt fiel ihr Blick auf Anbar, den feindlichen Ausgleicher. Er saß am Fenster und sie sah in seinen Augen, dass er sie aufgegeben hatte. Seine Augen sagten ihr Lebewohl. Es überraschte sie, dass sie in diesen Augen gar nichts Böses entdeckte, obwohl sie nun, am Ende ihres Lebens, so mutig danach Ausschau hielt. Sie fand nur Traurigkeit. Traurige Gewissheit darüber, dass es für sie keine Hoffnung mehr gab. Seine Augen waren das letzte, was sie sah. Ihr Blick hörte auf, ihre Schmerzen auch, und alles, was eben noch ihr Leben gewesen war, verschwand.
„ Elsa?“
Es dauerte eine Weile, bis ihr klar wurde, dass sie doch noch lebte. Jemand berührte sie am Arm, vorsichtig, um keine Krisensituation heraufzubeschwören.
„ Wach auf, Elsa, wir müssen gehen!“
Im ersten Moment fiel es Elsa schwer, den Ernst der Lage zu begreifen. Denn sie lebte ja wieder und der Ausgleicher ging auch davon aus, dass sie nicht in den letzten Zügen lag. Nur allmählich kam ihr zu Bewusstsein, dass sie hier war, um bei Tagesanbruch die Rabendiener zu treffen. Sie richtete sich langsam auf.
„ Wer ist Segerte?“, fragte sie, als sie sich die Augen rieb.
„ Woher kennst du Segerte?“, fragte er zurück.
„ Ich habe von ihm geträumt.“
Es war noch dunkel in der Hütte und das musste es ja auch sein, sonst hätte sie ihre Verabredung schon verschlafen. Doch die Dunkelheit machte es schwieriger, Träumen und Wachen auseinanderzuhalten.
„ Wo ist mein Buch?“
„ Hier, in meiner Hand.“
Der Stimme nach stand Anbar schon an der Tür.
„ Wer ist er denn nun?“, fragte sie und stand auf.
„ Segerte ist der Leibarzt meiner Familie“, erklärte Anbar, „und mein Urgroßvater.“
„ Dein Urgroßvater! Dafür hat er sich aber gut gehalten!“
„ Ja, das ist so in Antolia. Wir sind alle sehr gesund und leben lange. Weit länger als die Sommerhalter. Aber nur wegen der idealen Lebensbedingungen und der ausgereiften Medizin. Bist du soweit?“
Sie strich sich das Kleid glatt und die Haare zurück und machte sich auf den Weg in Richtung Tür, vorsichtig, um nicht plötzlich zu stolpern.
„ Ich müsste dann vielleicht auch mal … hinter einen Baum?“
„ Ja, das lässt sich machen. Wieso träumst du von Segerte? Kannst du dich an ihn erinnern?“
„ Oh, ja“, sagte sie und wäre im Dunkeln fast gegen Anbar gestoßen, doch der ging im letzten Moment einen Schritt zur Seite. „An dich kann ich mich auch erinnern.“
„ Tatsächlich“, sagte er. „Das gefällt mir nicht unbedingt.“
„ Ich hoffe, es wiederholt sich nicht.“
„ Was?“
„ Ich hoffe, du wirst mich nie wieder so ansehen und wissen, dass ich sterbe.“
„ Das ist gruselig, Elsa.“
„ Es stimmt doch, oder? Es ist kein Traum?“
„ Nein, es ist kein Traum.“
„ Das wollte ich nur wissen. Gehen wir.“
Doch er ging nicht.
„ Ich weiß nicht, welchen Eindruck du von mir bekommst“, sagte er, „wenn du die Vergangenheit mit Agnes’ Augen siehst. Sie hat immer große Angst vor mir gehabt. Aber ich habe ihr nichts getan und das hatte ich auch nicht vor.“
„ Ich weiß.“
„ Dann ist es ja gut“, sagte er. „Es könnte mir zwar egal sein, was du denkst, aber so fühle ich mich doch besser. Wenn wir gleich draußen sind, sollten wir nicht mehr reden. Die Möwen haben gute Ohren.“
Er öffnete die Tür und sie sah, dass der Himmel über den dunklen Bäumen schon hell geworden war. Die Vögel sangen und waren so laut dabei, dass Elsa befürchtete, sie würden die Möwen viel zu spät hören, wenn sie ihnen über den Weg liefen. Doch niemand lief ihnen über den Weg, zumindest nicht im Wald. Später, als sie sich auf halbem Weg zwischen Wald und Tor befanden, hörte Elsa ein Sausen und Rascheln im rechten Ohr. Sie kannte das, es waren die Geräusche, die Möwen im Zwischenraum machten, und sie wunderte sich, dass diese Geräusche so weit weg vom Tor zu hören waren. Sie sah Anbar an, der nichts zu hören schien.
Weitere Kostenlose Bücher