Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)
Wenig später war es wieder weg. Dafür bewegten sich Schatten in der Ferne zwischen zwei einzelnen Bäumen. Es waren drei Personen. Elsa wollte sofort ausweichen und einen anderen Weg einschlagen, doch Anbar hielt sie am Ärmel fest. Er wartete kurz, beobachtete die Schatten, und setzte dann seinen Weg fort. Als sie zögerte, ihm zu folgen, winkte er ihr. Da sah sie es auch, dass die Schatten sich von ihnen fortbewegten. Sie gingen in die gleiche Richtung wie sie, zum Tor hin. Die ganze Zeit waren sie zu sehen, nur dann nicht, als sie an die Stelle kamen, wo die Büsche standen. Hier wartete Anbar einige Zeit und lauschte. Ganz in der Ferne, sehr leise, glaubte Elsa jemanden sprechen zu hören. Dann war auch das weg.
Hinter dem Wald im Osten wurde es immer heller. Elsa hoffte, dass sie sich nicht verspäteten. Obwohl das albern war. Die Übergabe würde nicht daran scheitern, dass es die Rabendiener mit der Tages- oder Nachtzeit allzu eng sahen. Es war nur so, dass Elsa gerade sehr nervös war. Es bestand ja auch noch die Möglichkeit, dass Gaiuper das Buch nahm, sich ins Fäustchen lachte und sie abkassierte. Obwohl sie es nicht glaubte.
Anbar ging weiter und sie ging mit. Kurz darauf tauchten die Zerfurchten Wiesen vor ihnen auf. Die dunklen Mauerreste schliefen noch vor sich hin, still und friedlich im grauen Licht des Morgens. Kein Mensch war weit und breit zu sehen. Sie setzten sich hinter eine der höheren Mauern und warteten ab.
Es verging einige Zeit. Die Wolkenschleier am Himmel nahmen eine hellgelbe Farbe an. Die Vögel sangen immer noch, doch weiter weg. Die Luft war kalt. Hätte Elsa in den Rosenrinker Klinken gestanden, so wie früher in Istland, an einem Herbstmorgen, kurz bevor sie ihren Weg in die Schule antreten musste – dann hätte sie es genossen. So wartete sie sehnsüchtig auf ein fremdes Geräusch, das richtige Geräusch, und dann kam es. Wie aus dem Nichts traten fünf Gestalten auf die Wiese, vier gedrungene, bewaffnete und eine hagere mit nervösem Gesichtsausdruck. Das war Kamark.
Elsa nahm das Buch, das Anbar ihr reichte, und lief den Männern entgegen. Unter den bewaffneten Rabendienern erkannte sie Tegga, den Anführer der Schläger. Ihm überreichte sie das Buch.
„ Hier. Das ist es, was Gaiuper haben wollte.“
„ Hoffen wir, dass es das richtige ist“, antwortete Tegga. „Du weißt, was sonst passiert.“
„ Es ist das richtige. Keine Sorge.“
„ Du bist es, die sich Sorgen machen sollte. Aber fürs Erste kannst du gehen. Gaiuper hält sein Wort.“
Auf ein Zeichen von Tegga machte Kamark kehrt und verschwand wieder, mit den Rabendienern an seiner Seite. Im gleichen Moment fühlte Elsa, wie Anbar sie am Arm von der Wiese fortzog.
„ Du musst jetzt sofort verschwinden“, sagte er. „Flieg weg, komm nie mehr wieder und pass gut auf dich auf!“
Sie drehte sich nach ihm um. Ein leichter Wind zupfte an Anbars Haaren und wehte ihr die eigenen ins Gesicht. Sie wollte sich eigentlich verabschieden oder bedanken, aber die Zeit drängte und sie wusste sowieso nicht, was sie sagen sollte. Darum verwandelte sie sich ohne ein Wort und war plötzlich ein Rabe, der noch mehr Wind machte. Ihre menschlichen Gedanken purzelten durcheinander und der Rabe gewann schnell an Höhe. Bald wurde er von den ersten Strahlen der aufgehenden Sonne getroffen. Als er noch einmal nach unten schaute, war Anbar in den Schatten der Niederungen verschwunden. Den Raben kümmerte das nicht, ihn lockte der weite, helle Himmel. Doch Elsa kam es komisch vor. Jetzt war er weg und sie würde ihn nie mehr wiedersehen. Sie würde auch nie erfahren, ob Nada und Amandis heirateten oder nicht. Wie ‚Bolhins Reisen’ ausging, sollte ihr auch ein ewiges Rätsel bleiben. Aber all diese Gedanken brachten sie nicht vom Fleck, sie musste sich jetzt losreißen und nach Brisa fliegen. Um Nikodemia zu suchen und dann – mit oder ohne ihn – in eine ferne, fremde Welt aufzubrechen. Sie war schon bereit, richtete ihre Gedanken nach Norden aus, da fiel ihr etwas ein, etwas Wichtiges, das sie vergessen hatte. Der Stein, der im Dunkeln leuchtete, wenn man ihn wärmte, lag immer noch in der Hütte auf dem Tisch.
Sie hörte auf, mit den Flügeln zu schlagen und glitt, ohne weiter zu überlegen, in Richtung Wald dahin. Es war ein kurzer Weg, wenn man Flügel hatte. Sie sah den Wald unter sich auftauchen und gleich darauf die Lichtung mit den Häusern. Da weit und breit niemand zu sehen war, landete sie im Gras, richtete
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