Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)
Regen und eigentlich fror sie auch. Es war spät im Herbst, viel zu kalt, um ohne Mantel durch die Gegend zu laufen. Aber es machte ihr nichts aus. Es war so schön zu frieren! Zumindest eine Zeit lang. Jetzt wollte sie doch ins Warme und erwartete schon ein Donnerwetter: Puja würde es nicht richtig finden, dass sie so leicht bekleidet war.
Das Haus sah verändert aus. Es hatte einen neuen Anstrich bekommen, der im Licht der Hoflaterne hell leuchtete. Die Fensterrahmen waren blau und nicht mehr grün. Auch das Dach sah neu aus. Lostil, der zottelige, schwarze Hund kam aus der Dunkelheit geschossen und bellte wie verrückt.
„ Lostil!“, rief sie.
Er erkannte, dass sie keine Fremde war. Unschlüssig blieb er stehen, wedelte mit dem Schwanz, kam aber nicht näher. Pujas Gesicht erschien hinter der Glasscheibe. Jemand öffnete die Tür, es war Wenslaf, Elsas Vater.
„ Kann das unsere Tochter sein?“, rief er. „Sie muss es sein, denn sie hat schwarze Haare!“
Elsa hatte Wenslaf größer in Erinnerung. Natürlich. Sie war ja auch gewachsen in den letzten fünf Jahren. Sie hätte ihm um den Hals fallen sollen, doch er war ihr fremd geworden.
„ Hallo Papa“, sagte sie unsicher.
Puja drängte sich an Wenslaf vorbei, ergriff Elsa und drückte sie an sich.
„ Mein Kind!“, rief sie immer wieder. „Das ist mein Kind!“
„ Schön, dass du früher kommen konntest“, sagte Wenslaf und klopfte ihr auf die Schulter. „Weite Reise, oder?“
„ Ja“, sagte Elsa. „weite Reise.“
„ Komm rein, mein Schatz!“, rief Puja. „Ein hübsches Mädchen bist du geworden. Trägt man das jetzt in Suaz?“
Sie zeigte auf das grellrote Oberteil mit den Flatterärmeln. Elsa zuckte mit den Achseln.
„ Es war nur ein Kostüm für ... ich bin nicht dazu gekommen, mich umzuziehen. Kannst du mir etwas von deinen Sachen leihen?“
„ Groß genug bist du“, sagte Puja, „aber nicht breit genug. Sani hat bestimmt etwas für dich! Hast du kein Gepäck?“
„ Ich habe nichts mitgenommen. Das macht die lange Reise leichter.“
„ Du bist ja eine!“
Wie oft hatte sie davon geträumt, mit ihrer Familie am Küchentisch zu sitzen. An diesem Herbstabend durfte sie es. Es gab frisch gebackenes Brot, Kräuterkäse und eingekochten Kirschsaft. Elsa kam nicht in die Verlegenheit, ihre Vergangenheit erfinden zu müssen. Was sie in den letzten fünf Jahren angeblich getan hatte, wurde ihr erzählt: Wie ihre Lehrerin den Aufenthalt in einem Internat empfohlen hatte, in Suaz, wo es hervorragende Schulen gab. Wie Elsa eingewilligt hatte, weil sie in Suaz auf die höhere Schule gehen durfte und nicht im Laden arbeiten musste. Wie zufrieden ihre Briefe geklungen hatten – nein – sie hatten die Briefe nicht mehr, sie waren irgendwie verloren gegangen. Wie schnell die Jahre vergangen waren, obwohl sie nie zu Besuch gekommen war, weil die Reise ja so teuer und weit war. Sie sei ja auch so beschäftigt gewesen, es war ja nicht leicht, wenn man neben der Schule auch noch Geld verdienen musste. Aber jetzt, zur Hochzeit ihrer Tante Sani, war sie gekommen. Ganz unerwartet! Sie hatte doch ursprünglich bis zum Ende des Jahres in Suaz bleiben wollen. Wegen ihrem Freund!
„ Meinem Freund?“
Wenslaf und Puja lachten.
„ Kurt, mit dem du für die Prüfungen gelernt hast! Wolltet ihr nicht zusammen ans Meer fahren?“
„ Er ist nicht mein Freund“, erklärte Elsa. „Er kann alleine ans Meer fahren, ich hatte Heimweh!“
„ Wenn man dich so ohne Gepäck hier auftauchen sieht“, sagte Puja, „könnte man meinen, du wärst auf der Flucht gewesen.“
„ Das war ich auch“, gestand sie.
Ihre Eltern nickten sich viel sagend zu.
„ Wie geht es im Laden?“
„ Der Laden geht prächtig“, sagte Wenslaf. „Wir führen Springreifen, die im Dunkeln leuchten, und pfeifende Schlüsselanhänger. So etwas hast du noch nicht gesehen!“
„ Du hast wahrscheinlich kein Kleid für die Hochzeit?“, fragte Puja. „Dann müssen wir dir noch eins kaufen!“
Elsa wurde flau zumute. Es konnte vom Kirschsaft kommen. Sie hatte drei Becher auf leeren Magen getrunken. Außerdem war sie müde. Die lange Reise von Suaz hierher hatte sie erschöpft.
„ Macht es euch etwas aus, wenn ich mich schlafen lege?“
„ Tu das, meine Kleine. Auf deinem Bett liegen ein paar Sachen, die kannst du über den Stuhl hängen.“
In Elsas Zimmer standen Pujas Körbe mit Stopfsachen und Wollresten. An den Wänden hingen Bilder, die Elsa als Kind gemalt
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