Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)
Rabe sich einbildete, die Schwärze sei lebendig. Dunkelheiten bewegten sich vor seinen Augen, wechselten einander ab und kamen auf ihn zu. Anfangs lebte er in Angst vor den Schattenbildern, doch je länger die Feinde auf ihn einstürmten, desto deutlicher spürte er deren Leere. Er war nicht bedroht, er war alleine. In der Unterschiedslosigkeit der vielen Tage, die er nicht als solche erkennen konnte, gab es nur ein Wesen, das vorwärts strebte. Es war die Zeit, die wie ein Tier den Käfig umkroch.
Langsam war das Zeit-Tier und still. Doch unablässig kroch es und schleifte den Tod hinter sich her, jene Grenze, die von diesem dunklen Ort zu einem noch dunkleren führte. Der Tod ist kein angenehmer Gast, vor allem, wenn man keine Ablenkung hat. Manchmal wünschte der Rabe, das Zeit-Tier möge den Tod endlich loslassen. Doch die Zeit hielt ihn fest und den Vogel am Leben. Hilflos ergab sich der Rabe in sein Schicksal und fraß. Er fraß Würmer und Körner und Blätter, er fraß die formlosen Tage und die Dunkelheit. Er fraß die Leere und er fraß, was das Zeit-Tier auf seinen Runden liegen ließ. Indem er fraß, wurde er älter. Bald war das erste Jahr vergangen, doch er wusste es nicht. Er merkte nur, wie die Farben in seinen Traumbildern verblassten. Lange, nachdem der letzte bunte Schimmer erloschen war, fraß er immer noch.
Er hasste es, wenn ein Laut, den er verursacht hatte, die Stille durchbrach. Umso mächtiger die Stille war, desto leichter gelangte der Rabe in einen Zustand zwischen Wachen und Schlafen. Dieser Zustand war sein Boot, in dem er unbeschadet über die Ewigkeit gleiten konnte. Über eine Ewigkeit, die sich in der Tiefe zusammenzog und wieder ausbreitete, immerzu sich wiederholend, ohne einen Sinn. Das Boot trieb über Meere, die den Horizont vermissten. Am Himmel waren die Lichter ausgegangen, das Ufer gehörte den Toten und das Zeit-Tier schwamm vom Ufer zum Boot und wieder zurück. Wenn der Rabe an der Dunkelheit vorbei schielte, erkannte er, dass das Tier eine Schildkröte war. Eine ausgehöhlte Geister-Schildkröte, in deren Leib die Leere an einem einzigen Tun festhielt: einem Tun namens Warten.
Wenn die Wächter kamen, um das Schloss des Käfigs zu kontrollieren oder ihm Futter zu bringen, hatten sie Lampen bei sich, die den Raben blendeten. Er wurde scheuer und ängstlicher, drückte sich ans andere Ende des Käfigs, wenn sie kamen, und war beruhigt, wenn sie wieder gingen. In der Gegenwart der Lebendigen war er nur noch ein Gespenst. Ein Gespenst, das seine Seele verloren hatte und nicht zu hoffen vermochte, dass diese Seele eines Tages zurückkehren könnte. Doch sie kam, unerwartet und überwältigend, und sie hatte das Licht im Gepäck.
KAPITEL 19
Kalter Regen fiel aus einem grauen Himmel auf die Rosenrinker Klinken hinab. Es roch, wie es in Istland schon immer gerochen hatte: nach Wind, Wasser, Gras und Steinen. Elsa sog die Luft in sich hinein und konnte es kaum glauben, dass sie zu Hause war. Wie es dazu gekommen war, konnte und durfte sie jetzt nicht wissen. Vermutlich war sie gerade von der Bushaltestelle gekommen, die nahe der Klinken eingerichtet worden war, um Wanderer abzusetzen. Es entsprach Elsas Vorliebe für das kahle Hügelland, dass sie nicht direkt ins Dorf fuhr, sondern zwei Haltestellen früher ausstieg, um alleine nach Hause zu spazieren. Jetzt schaute sie zu der Wolkendecke empor und erinnerte sich daran, wie sie als Kind lange Nachmittage in den Hügeln verbracht hatte, nur in Gesellschaft ihrer Freunde, der Krähen. Jetzt war sie viel größer geworden, wenn sie auch nicht recht wusste, wie. Verwundert war sie auch über die Kleidung, die sie trug: einen langen giftgrünen Rock und dazu ein grellrotes Oberteil mit seltsamen Flatterärmeln. Also ihrem Geschmack entsprach das bestimmt nicht.
Sie wunderte sich nur kurz und ging dann weiter. Sie fühlte sich, als ginge sie wie auf Wolken. So schön war es, die vertraute Luft zu atmen und zu wissen, dass sie gleich nach Hause kommen würde. Es war schon spät, der Himmel, der sowieso nicht hell war, wurde zunehmend dämmriger. Im Haus würde Licht brennen und es würde nach Pujas Essen duften. Konnte es wahr sein, dass sie tatsächlich in diesen Genuss kam? Lange Zeit hatte sie nicht geglaubt, dass sie jemals heimkehren könnte.
Sie spazierte durch die immer farbloser werdende Landschaft. Als sie die ersten Häuser von Sellerichkranz erreichte, war es dunkel geworden. Mittlerweile war Elsa durchnässt vom
Weitere Kostenlose Bücher