Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)
einer Laterne fiel auf Gunther-Svens aufgeregtes Gesicht.
„ Wenn ich dir sage, dass ich fünf Jahre fort gewesen bin, mich in Vögel, Katzen und andere Menschen verwandelt habe, in einen Krieg gezogen bin, einen Mann mit einem Beil erschlagen habe und über ein Jahr lang in einem Käfig in einem schwarzen Keller gesessen habe – bist du dann bereit, diese Dinge für möglich zu halten? Könntest du dir vorstellen, dass all das wirklich stattgefunden hat?“
„ Ich weiß, dass du es gerade ernst meinst“, erwiderte er, sichtlich besorgt. „Wahrscheinlich ist es auch so passiert, irgendwo in deinem Kopf.“
„ Aber es ist nicht nur in meinem Kopf!“, rief sie. „Es ist überall in mir, in meinem ganzen Körper, in meinem Blut. Es ist alles, was ich bin. Ich bestehe aus Möglichkeiten und aus sonst nichts! Wie kann ich für den Rest meines Lebens so tun, als gäbe es nur eine Möglichkeit und nur eine Wirklichkeit? Das macht mich krank!“
„ Beruhige dich, Elsa. Für dieses Problem gibt es bestimmt eine Lösung. Du darfst dich bloß nicht hineinsteigern!“
Elsa sah Gunther-Sven an und wusste, er meinte es nur gut mit ihr.
„ Er hat recht gehabt“, sagte sie müde. „Er hat gesagt, dass mir Kirschkuchen alleine nicht reichen wird. Dass ich nicht zufrieden sein werde, auch wenn ich versorgt bin und keine Angst mehr haben muss. Aber ich habe es nicht geglaubt. Ich dachte, Istland wäre alles, was ich will.“
Gunther-Sven war nun alarmiert. Er legte Elsa die Hand auf den Arm.
„ Du bist durcheinander“, sagte er. „Schlaf dich erst mal aus. Oder sollen wir ins Krankenhaus gehen und dir Beruhigungstabletten besorgen? Damit du besser schlafen kannst?“
„ Geht schon.“ Sie lächelte, damit Gunther-Sven sich keine Sorgen mehr machte. „Ich habe manchmal solche Anfälle, das geht wieder vorbei.“
„ Ich könnte immer für dich da sein, wenn du so einen Anfall hast!“
Sie schüttelte den Kopf.
„ Ich bin lieber alleine. Gute Nacht, Gunther-Sven. Wir sehen uns morgen in der Kantine?“
„ Elsa, wenn du mich heute wegschickst, dann ist es morgen zu spät. Ich weiß, was Marie-Rosa fühlt, und ich will sie nicht hinhalten!“
„ Damit bin ich einverstanden.“
„ Weißt du ganz genau, was du da sagst?“
„ Ja“, sagte sie, schloss die Haustür auf, ging ins dunkle Treppenhaus und machte die Tür gleich wieder hinter sich zu. Sie lauschte. Eine Zeitlang hörte sie gar nichts, doch irgendwann entfernten sich Gunther-Svens Schritte.
Auf dem Weg in ihr Zimmer tat sie etwas, das sie normalerweise nie tat. Sie weinte ein bisschen. Gar nicht mal wegen Gunther-Sven. Er und Marie-Rosa würden bestimmt ein glückliches Paar werden. Es waren eher trotzige Tränen, weil sie nicht haben konnte, was sie wollte. Weil sie in ihrer eigenen Welt eingesperrt war. Weil sie das Gefühl hatte, am falschen Ort zu sein. Aber das war undankbar und sie musste es vergessen. Bevor sie ihre Zimmertür öffnete, wischte sie sich die Augen trocken und beschloss, sich zusammenzureißen.
Sie kochte sich noch einen Kräutertee, bevor sie zu Bett ging. Sie würde es sowieso nicht schaffen, vor ein Uhr einzuschlafen. Daher setzte sie sich ins Bett, schaute zum Fenster hinaus und nippte an ihrem Becher. Dabei kamen ihre Träume zurück, ungefragt bevölkerten sie ihren Kopf, und sie ließ sie gewähren. So musste sie zum Beispiel an ein Würstchenrestaurant denken, in dem sie mit Anbar gesessen hatte, in Gesellschaft vieler grellbunt gekleideter Damen und gnadenlos albern gekleideter Herren. Sie konnte sich nicht zwischen Kartoffelwürstchen, Krautwürstchen oder Spiegeleiwürstchen entscheiden, als sie die Karte studierte.
„ Was für ein Würstchen isst du?“, fragte sie ihn.
„ Gemüsesuppe“, sagte Anbar.
„ Kein Würstchen? Wir sitzen hier in einem Würstchen-Spezialitätenrestaurant, in dem es sogar Vanille- und Schokowürstchen gib und du nimmst das Normalste und Langweiligste, was auf der Karte steht?“
„ Es ist das einzige ohne Würstchenbestandteile.“
„ Du magst keine Wurst?“
„ Ich bin Antolianer. Kein Antolianer isst Wurst.“
„ Aber du hast nichts dagegen, wenn ich Würstchen esse?“
„ Säßen wir sonst hier?“, fragte er. „Es muss nicht gerade Blutwürstchen sein, aber sonst kann ich damit leben.“
Elsa lachte.
„ Es ist so, wie mein alter Freund Edon gesagt hat: Antolianer sind Weichlinge.“
„ Das stimmt, wir sind alle Weichlinge. Dafür sitze ich hier mit dir und
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