Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)
und zwar auf eine Weise, die Schlimmeres bewirken kann, als das, was sich sonst abgespielt hätte. Mit anderen Worten: nein. Du brauchst es gar nicht erst zu versuchen. Nimm es als Hinweis, aber lass dich nicht davon lenken.“
„ Warum erzählst du mir das? Was soll ich damit?“
„ Du wirst überleben, zumindest bis zu jenem Zeitpunkt, den ich gesehen habe. Das kann ich dir versprechen. Manchmal muss man so etwas wissen. Ich glaube, du solltest es wissen.“
„ Wie tröstlich. Was tue ich jetzt?“
„ Vermutlich das, was du tun würdest, wenn du mich nicht getroffen hättest.“
Elsa sah Carlos an und konnte die Trostlosigkeit ihrer Situation kaum fassen.
„ Ist das alles? Mehr Hilfe kannst du mir nicht anbieten?“
Er schüttelte den Kopf.
„ So, wie die Dinge stehen“, sagte er, „kann ich dich nicht verstecken. Die Buchstaben sind wieder schwarz, sagst du. Nur du hättest verhindern können, dass das passiert. Es rückgängig zu machen – das wird dir vermutlich nicht schnell genug gelingen. Vorher wird er dich finden.“
„ Also habe ich alles falsch gemacht.“
Die Frau mit den Einkaufstaschen starrte aus dem Fenster, obwohl da kaum etwas zu sehen war. Sie war in Gedanken und sah völlig unbeteiligt aus. Elsa hätte schwören können, dass sie kein bisschen lauschte. Wahrscheinlich ein Trick von Carlos. Er hatte ja gesagt, dass er das konnte.
„ Vielleicht hattest du keine Chance“, tröstete er sie. „Ich steige nun aus. Unsere Wege trennen sich. Ob wir uns wiedersehen, weiß ich nicht. Aber denk immer daran, dass du überleben wirst, bis du hierher zurückkehrst.“
Er stand auf, lange bevor die Bahn die nächste Haltestelle erreichte. So unauffällig verschwand er zwischen den Leuten, die im Gang standen, so unauffällig und vollkommen, dass Elsa daran zweifelte, ob er überhaupt da gewesen war. Sie war schließlich verrückt, nach istländischen Maßstäben. Er konnte eine Halluzination von ihr gewesen sein, ein Wahngebilde, das sie ängstigte. Als die Bahn endlich anhielt, stieg sie aus und fand sich an den Toren des Nordfriedhofs wieder. Er befand sich zwischen Innenstadt und Vorstadt im Niemandsland zwischen Feldern und Sportplätzen. Kein Fahrgast außer Elsa war ausgestiegen. Sie merkte es erst, als die leuchtende Bahn in der Dunkelheit verschwand.
Der Regen hatte sich in feuchten Nebel verwandelt, der die Laternen einhüllte und die Enden der Straße verschluckte. Elsa spazierte an den Gleisen entlang. Es kam ihr vor, als wäre sie gerade der einzige Mensch auf dieser Welt. Es gab keine Spaziergänger und keine Autos. Es war sehr still und außer dem Tropfen und dem Rauschen der Rinnsale am Rand der Straße hörte sie nichts. Nichts außer ihren Schritten. Ob ihr die Flucht gelang? Oder würde Gaiuper sie einfangen und sie würde es trotzdem überleben? Carlos hatte darüber nichts gesagt. Aber überleben würde sie. Ganz gleich, was sie tat. Oder nicht? Könnte sie sich darauf ausruhen oder würde sie ihr Leben riskieren, wenn sie sich auf ihre vorhergesagte Zukunft verließ? Langsam wurde ihr klar, dass sie ihre Freunde verloren hatte. Die vertrauten istländischen Gesichter waren weit fort. Sie konnte sie jetzt nicht mehr um Rat fragen, sie würden überhaupt nicht verstehen, was ihr Problem war. Die Gewissheiten der anderen waren nicht mehr ihre eigenen und so war sie wieder allein. Es war ihre eigene Schuld.
Endlich kam doch ein Auto, dessen Lichter im Nebel weich und groß waren. Es fuhr vorüber und hinterließ Stille, so lange, bis die Glocken der kleinen Kirche auf dem Nordfriedhof zu läuten begannen. Es waren kleine Glocken, die in der nassen Luft blechern klangen. Als Elsa sie hörte, fiel ihr etwas ein: Sie war ja so dumm! Wo auch immer Gaiuper sie fände, hier durfte es nicht sein! Sie konnte ihn doch nicht nach Istland locken, ihre Heimat verraten, ihm die Freunde und Verwandten ausliefern, damit er Elsa nach Lust und Laune erpressen konnte! War es das, was Carlos gemeint hatte? War es das, was sie erschüttern würde, wenn sie eines Tages nach Istland zurückkehrte?
Sie blieb stehen. Immer machte sie alles falsch. Jetzt musste sie schnell fort von hier, aber womöglich war Istland längst verloren, es reichte, wenn Gaiuper ihrer Spur folgte und Istland durchquerte, während er ihr folgte. Dann wusste er Bescheid! Außerdem – wohin sollte sie denn gehen? Nachdem sie einmal versprochen hatte, für immer hierzubleiben, für immer hier zu Hause zu sein und
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