Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)
nie wieder in Sommerhalt oder einem anderen bekannten Ort aufzutauchen, was gab es da noch?
Neben der Straße zog sich die Mauer vom Friedhof hin. Sie war noch nicht alt, zehn Jahre vielleicht, da war der Friedhof gebaut worden, da das alte Gräberfeld im Inneren der Stadt zu klein geworden war. Da man in Istland keine halben Sachen machte, war eine riesige Fläche zu Friedhofsgelände erklärt worden. Auf dem Friedhof selbst waren die Bäume noch klein und die kurz geschnittenen Wiesen weitestgehend gräberlos. Daher war sich Elsa sicher, dass sie dort kein Tor finden würde. Sehr alte Friedhöfe beherbergten manchmal ein Tor, so wie der Friedhof in Brisa, oberhalb der Stadt. Sie brauchte ein Tor, um Istland zu verlassen. Ein Jahr lang hatte sie keine Welten mehr gewechselt und das Jahr davor auch nur mit fremder Hilfe. Ob sie es überhaupt noch konnte? Sie hatte auch keine Ahnung, wo sich das nächste Tor befand. Dass es überhaupt so etwas wie Tore gab, war ihr vor einer Woche nicht mal in den Sinn gekommen.
Plötzlich hörte sie Schritte. Sie drehte sich um und sah zwei Gestalten, die gebückt unter einem Mantel gingen, den sie sich über den Kopf hielten. Dabei regnete es gar nicht mehr. Vielleicht waren es zwei ganz normale Istländer, aber Elsa konnte ihre Gesichter nicht erkennen. Als sie am hinteren Eingang des Friedhofs ankam, sah die Dunkelheit jenseits der Mauer verlockender aus, als die lange, leere Straße, die vor ihr lag. Sie bog ab, umrundete die Gießkannenständer und das Sammelbecken für Regenwasser und lief über die Wiese hin zu einer schattenschwarzen Reihe von Büschen, die ein leeres Gräberfeld vom nächsten trennte. Dort wollte sie sich hinhocken und den Eingang beobachten. Aber noch auf dem Weg dorthin bemerkte sie, dass sie nicht alleine war. Zu vieles bewegte sich hier auf dem verlassenen Friedhof, in dem doch kaum jemand begraben lag. Einer plötzlichen Ahnung folgend drehte sie sich um und schlug eine andere Richtung ein. Sie lief wieder an der Mauer entlang, diesmal innerhalb des Friedhofs, zurück in Richtung Haupteingang. Denn nicht weit von ihr, ungefähr hundert Schritte entfernt, hantierte jemand mit einer Lampe herum. Dort, wo schmucke Marmortafeln die kleinen Fächer verdeckten, in denen Urnen aufbewahrt wurden, war ein Mann mit Arbeitskittel damit beschäftigt, lauter runde Dinge in seiner Schubkarre zu stapeln. Vorher wischte er sie sorgfältig mit einem Lappen ab, dann hielt er die Lampe hoch, um sie noch einmal zu begutachten. Elsa näherte sich eilig. Das Gefühl, umlagert zu sein und beobachtet zu werden, ließ sie nicht los. Für einen kurzen Moment blickte sie über ihre Schulter zurück, suchte in der Dunkelheit nach Umrissen oder Bewegungen, nahm aber nichts wahr außer Wind und Feuchtigkeit. Es mochten einzig und allein ihre Ängste sein, die sie jagten, daher war sie froh, als sie in das Licht trat, das die Lampe des Friedhofsangestellten um sich verbreitete.
„ Guten Abend“, sagte der Mann, ohne von seiner Arbeit aufzuschauen. Der Lappen, mit dem er arbeitete, war braun von Erde und bestimmt nicht dazu geeignet, etwas sauberer zu machen, als es vorher gewesen war. Elsa schaute zu, wie der Mann einen Schädel polierte, einen Menschenschädel, der eine gelblich braune Farbe hatte.
„ Bei so Wetter im Dunkeln kommt normalerweise keiner hierher“, sagte der Mann.
„ Was machen Sie da?“, fragte Elsa, die sich nicht vorstellen konnte, dass diese Tätigkeit zum offiziellen Aufgabenbereich des Friedhofsangestellten gehörte.
„ Ich kümmere mich nur ein bisschen. Die Armen, die wollen auch mal etwas Aufmerksamkeit haben.“
Er streichelte seinen Schädel am Hinterkopf, legte ihn in die Schubkarre zu den anderen und holte einen neuen Schädel aus einer Kiste, die so bedruckt war wie normalerweise die Bananenkisten im Supermarkt.
„ Hier!“, sagte er und hielt Elsa den Schädel hin. „Willst du auch mal?“
Zum ersten Mal sah er sie direkt an, freundlich und bittend, wie ein kleines Kind. Doch die Farbe seiner Augen war rotorange.
„ Keine Angst, er beißt nicht!“, sagte der Mann.
Er sah kein bisschen böse aus und hatte auch keinerlei Ähnlichkeit mit Gaiuper – bis auf die Augen. Elsa starrte von seinem Gesicht hinab auf den Schädel, den er ihr entgegenstreckte und wieder zurück in seine Augen. Die Wahrheit war zum Greifen nah. Sie durfte nicht so panisch sein, sich nicht betrügen lassen von der Nacht, die hier herrschte, obwohl es doch in
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