Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)
verschwand. Der andere war Unass, Gaiupers Oberpriester, wobei Elsa nie so richtig verstanden hatte, warum er Priester genannt wurde. Ein heiliger Mann war er bestimmt nicht, er predigte auch keine Religion, sondern war nur der durchtriebenste Giftmischer von allen, die Gaiuper beschäftigte. Er hatte ein paar Zaubertricks auf Lager, hielt sich gerne in dunklen Räumen auf und flüsterte Gaiuper Geschichten von einer glorreichen Zukunft ins Ohr. Mit Unass hatte Elsa das Vergnügen gehabt, als sie ihren Vertrag unterschreiben musste. Die unheilvolle Wirkung der Buchstaben auf ihrem Rücken ging auch auf Unass’ Künste zurück. Ein paar Dinge beherrschte er, aber die gereichten niemandem zum Segen. Hier war er nun, zusammen mit Gaiuper in lächerlicher Aufmachung in einer verlassenen Burg mitten in der Nacht. Es hätte Elsa weit weniger beunruhigt, hätte nicht auf einem der beiden Tische sie selbst gelegen, festgebunden von Kopf bis Fuß und daher nicht in der Lage, sich auch nur einen Zentimeter zu rühren. Es waren auch keine normalen Seile, die sie banden, sondern sie ähnelten in ihrer Wirkung dem Reif, den Elsa in Bulgokar hatte tragen müssen, oder auch den Schnüren und Fäden der Möwen. Es war komisch, sich selbst von außen zu sehen, das hatte Elsa bisher noch nie getan. Wie konnte es sein, dass sie dort lag und sich doch betrachten konnte? Wenn sie gewollt hätte, hätte sie auch umschalten können, und sich von innen sehen, auf dem Tisch liegend und festgeschnürt, aber so unbeteiligt von außen war es angenehmer und so beließ sie es dabei. Zumindest so lange, wie sie es vermochte.
Die Werkzeuge, die Unass auf dem anderen Tisch ausgelegt hatte, verhießen nichts Gutes. Nadeln waren da, Schalen mit Pulver, ein Mörser, mehrere Flaschen und Gläser mit Flüssigkeiten, ein Hammer, Klammern aus Metall, eine Spritze.
„ Wie lange wird es dauern?“, fragte Gaiuper.
„ Nicht lange. Soll ich anfangen?“
Eines Tages, daran musste Elsa gerade denken, würde sie nach Istland zurückkehren. Sie würde erschüttert sein, das hatte Carlos ihr angekündigt. Aber mal abgesehen davon würde sie tatsächlich zurückkehren. Wie das unter diesen Umständen, die sie gerade unfreiwilligerweise beobachten musste, möglich sein könnte, war ihr ein Rätsel. Aber es machte ihr Mut. Sonst hätte sie sich in diesem Moment aufgegeben.
Als Unass auf ein Nicken von Gaiuper hin anfing, mehrere Nadeln in Elsas Schädel zu bohren und mit einem Hammer nachzuhelfen, wenn sie stockten, da wandte sie schnell ihren Blick ab und schaute in die Landschaft. Tannenwald musste das sein, unterhalb. Sie sah die Spitzen der Bäume. Ein kurzer Blick zurück verriet ihr, dass Unass ein Tuch in mehrere Flüssigkeiten tunkte und dann gegen Elsas Nase drückte. Als nächstes träufelte er ihr aus einer sehr kleinen Flasche mehrere Tropfen auf die Zunge. Da Elsa mehr oder weniger bewusstlos war, öffnete er ihren Mund mit einer Zange, klemmte etwas zwischen die Zähne und träufelte dann. Elsas Aufmerksamkeit wandte sich wieder den Tannen zu.
Ein Knacken und Kratzen war zu hören, dann bat Unass um die Spritze, die bereit lag. Er hatte keine Hand frei. Gaiuper reichte sie ihm, vermutlich, denn kurze Zeit später, geschah etwas mit Elsa, das sie nicht länger ignorieren konnte. Etwas bemächtigte sich ihrer und zerrte sie geradezu in den Schädel zurück, der da auf dem Tisch lag, und nicht anders konnte, als wild zu denken oder vielmehr zu erinnern. Eine Flut von Bildern strömte auf einmal auf sie ein. Als hätte man die festen Grenzen zwischen all ihren unzähligen Leben eingerissen, flossen die unterschiedlichsten Gedanken, Namen, Erinnerungen und Gefühle ineinander. Ein Chaos, eine Lebensbrühe entstand, der sie kaum Sinn abgewinnen konnte. Nur einzelne Szenen wurden ihr deutlich klar. Mal war es ein kurzer Wortwechsel zwischen ihr und einem Altja. Dann sah sie ein Baby, das sie in den Armen wiegte, aber hergeben musste. Einmal starrte sie auf ihre alten, knorrigen Hände und wusste, dass ihre Zeit abgelaufen war. Dann war sie wieder ein Kind, das mit Usido über einen Schrottplatz rannte und nach Teilen suchte, aus denen man sich etwas bauen könnte. Usido. So hatte Nikodemia einmal geheißen. Es waren nur Bruchstücke, die sie bewusst erleben und denen sie einen Zusammenhang abtrotzen konnte. Der Rest überforderte sie vollkommen.
Das Durcheinander von Bildern fraß sie regelrecht auf. Sie spürte keinen Körper mehr, wusste nicht mehr,
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