Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)
geringste Ahnung. Die Götter mochten wissen, wem Anbar Tore öffnete und wem nicht, anmerken ließ er sich jedenfalls nie, ob er sie gern oder ungern hatte, wobei sie glaubte, dass er sie gerner mochte, als sie das mal angenommen hatte.
Diese sinnlosen Gedanken raubten Elsa die Zeit. Auf einmal war die zeitlose Zeit um, ganz plötzlich und ohne Vorankündigung. Eine Gruppe von Menschen verschwand gerade im Wald, da legte Anbar seine Hand auf ihre.
„ Es ist soweit.“
Alle Sterne machten einen kleinen Hüpfer, als er das sagte.
„ Es ist nicht leicht“, sagte sie. „Ich hatte mir den Heimweg einfacher vorgestellt.“
Er erwiderte nichts, ließ nur seine Hand auf ihrer liegen und das hatte etwas Beruhigendes.
„ Was soll ich nun tun, worauf muss ich achten?“, fragte sie.
„ An Istland denken und nicht loslassen. Das ist alles.“
Er stand auf und hielt sie dabei immer noch an der Hand. Das machte es leichter, selbst aufzustehen, trotz der müden, wackeligen Beine, die nicht so willens waren wie Elsas Verstand. Auf dem Weg zum Tor bemerkte Elsa noch einige Ausflügler, die im Gras lagen. Womöglich würden sie beobachten, wie sich Elsa und Anbar in der Nacht auflösten. Andererseits – an heiligen Orten passierte nun mal heilige Dinge. Dann, am nächsten Morgen, würde das Wunder in der Erinnerung derer, die es gesehen hatten, schrumpfen. Zu einer Einbildung oder einem Krümel im Auge. Was man nicht glauben kann, vergisst man. War es Elsa in Istland nicht genauso ergangen? Sie hatte geahnt, dass sie fliegen konnte, aber es nicht zu wissen gewagt.
Der Zwischenraum flackerte, als Elsa an der Hand von Anbar diese Welt verließ. Ein, zwei Schritte später war sie in Istland, umfangen von vertrautem Dämmerlicht. Es war später Nachmittag, fast Abend. Das Wetter war bewölkt, windig und herbstlich. Elsa stand neben Anbar an den Rosenrinker Klinken, in ihrem rot-grünen Flatterkostüm, verwundert über den plötzlichen Verlust der Nacht und der Sterne. Istland war so grau und unspektakulär, wie sie es liebte. Immer noch hielt sie Anbars Hand fest, da die Situation viel Halt erforderte.
„ Es ist tatsächlich noch da“, sagte sie zu ihm. „Manchmal hatte ich Angst, Istland könnte weg sein.“
„ Es ist noch da und du wirst lange Zeit damit auskommen müssen. Ich hoffe, du wirst dich nicht langweilen.“
„ Besuchen darfst du mich ja nicht“, sagte sie und blickte in das Heldengesicht, das ihr auf einmal sehr wichtig geworden war.
„ Es würde dich deinen kostbaren Verstand kosten.“
Er nahm ihre kleinen Hände in seine großen Hände und gab ihr einen Hauch von einem Kuss auf die Stirn. Dann ließ er ihre Hände los, wandte sich ab und verschwand, als wäre er nie dagewesen. Nur noch Luft war dort, wo er gewesen war. Luft und Herbst und Istland an einem zu Ende gehenden Nachmittag. Elsa starrte noch eine Weile dorthin, wo ihr Traum sich in Nichts aufgelöst hatte, und drehte sich um, um nach Hause zu gehen.
KAPITEL 21
„ Elsa?“, rief Leslie, die gerade aus ihrem Kurs gekommen war. „Ist alles in Ordnung mit dir? Du siehst zum Fürchten aus!“
Leslie mochte recht haben. Elsa fühlte sich wie ein Schatten ihrer selbst. Ihr war vollkommen klar, dass sie gerade alles falsch machte.
„ Ich muss mir etwas eingefangen haben“, sagte sie. „Ich fühle mich nicht wohl. Vielleicht hilft etwas kaltes Wasser.“
Sie erhob sich und ließ es geschehen, dass Leslie sie zu den Toiletten begleitete.
„ Gunther-Sven war heute nicht da“, sagte Leslie, „vielleicht habt ihr das Gleiche?“
„ Oh, ich glaube nicht“, erwiderte Elsa
Tatsächlich war Elsa furchtbar durstig und sie trank Wasser aus dem Wasserhahn. Dann schaute sie in den Spiegel. Dort entdeckte sie etwas, das sie schon lange nicht mehr gesehen hatte. In ihren Augen: Es sperrte seinen Rachen auf!
„ Du solltest zum Arzt gehen“, schlug Leslie vor, die sehr besorgt aussah.
„ Vielleicht genügt es, wenn ich mich ordentlich ausschlafe“, sagt Elsa. „Ich war die ganze Nacht wach. Ich könnte schlafen und dann wieder aufwachen und dann wäre alles wieder so wie vorgestern. Oder wie letzte Woche am besten …“
Leslie nickte. Sie schaute zwischen Elsa und ihrem Spiegelbild hin und her.
„ Man könnte meinen, dir sitzt der Teufel im Nacken.“
„ Ja, so fühle ich mich auch.“
Da sie schon dabei waren, öffnete Elsa zwei Knöpfe ihrer Bluse, zog sie über die Schulter und drehte sich zum Spiegel hin. Sie sah, was
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