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Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)

Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)

Titel: Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Kammer
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wo sie war, und hatte keine Ahnung von dem Raum, in dem sie sich befand. Sie schien aus nichts mehr zu bestehen als aus Erinnerungsfetzen, die wie wild um sie herumwirbelten und kreisten, oder vielmehr: Sie war nur noch dieser Wirbel selbst, in dessen Zentrum nichts war. Ein Wirbel mit einer leeren Mitte. Bisweilen hatte das Loch in der Mitte die Gestalt oder den Umriss eines Raben. Er entstand aus dem absoluten Nichts, er gewann nur Kontur aus der Grenze zum Sein. Aber vielleicht war das auch eine Sinnestäuschung. Elsa erlebte all das ganz deutlich und gleichzeitig wie betrunken. Später, als sie die Muße hatte, sich zu erinnern, da tauchte dieses und jenes auf, da schälte sich das eine oder andere vergangene Leben aus dem Chaos, sodass sie zu dem Schluss kam, dass sie sich in diesem Moment an alle Leben gleichzeitig erinnert hatte, doch nicht in der Lage gewesen war, diese Erinnerung zu fassen. Wie lange dieser Zustand anhielt, das konnte sie beim besten Willen nicht sagen, nicht jetzt, da es geschah, und auch später nicht mehr, denn die Zeit war wie ausgesetzt. Ihr wurde nach und nach klar, dass jemand all die wirbelnden Gedanken und Bilder verdichtete, zusammendrängte und in etwas hineinstopfte, wofür sie eigentlich zu groß und zu ausladend waren. Mitsamt der leeren Mitte in Gestalt eines Raben wurde der Wirbel in ein Behältnis gesteckt, das zur Langsamkeit zwang. Die Bilder hörten auf zu wirbeln, sie setzten sich, sie klebten aneinander. Zu benommen war der Patient, um zu begreifen, was mit ihm passiert war.
    „ Ich bin müde“, hörte Elsa sich selbst sagen. Doch sie hörte nicht ihre eigene Stimme, sondern die von Gaiuper.
    „ Das ist nicht verwunderlich“, antwortete Unass. „Dein Geist muss sich erst an die neuen Bedingungen gewöhnen. Bis du ihre Kräfte benutzen kannst, wird einige Zeit vergehen.“
    „ Ich kann sie beherrschen“, sagte Gaiuper. „Das konnte ich immer schon. Was will ich mit einem starken Raben, wenn ich mir einen schwachen einverleiben kann? Wann können wir nach Ganduup zurückkehren?“
    Elsa schauderte. Immer wenn sie sprach, dann hörte sie Gaiupers Stimme. Es waren auch nicht ihre eigenen Gedanken, die ausgesprochen wurden, sondern seine. Sie strengte sich an, etwas anderes zu sehen als nur Dunkelheit. Langsam lichtete sich das Blickfeld. Was sie sah, war das durchschnittliche, ungesunde Gesicht von Unass.
    „ Wir sollten noch einen halben Tag abwarten. Es soll ja auch niemand merken, dass mit dir etwas nicht stimmt.“
    Elsa konnte sich ihre Blickrichtung nicht aussuchen. Sonst hätte sie sich von Unass abgewandt und nach dem Tisch Ausschau gehalten, auf dem sie eben noch gelegen hatte. Sie ahnte jedoch, dass der Tisch leer war. Sie ahnte, dass sie in einem Gefängnis steckte. Diesmal war es kein Käfig. Diesmal war es nicht dunkel. Vielleicht war es schlimmer. Der Vogel war in einen Kopf gesteckt worden. In einen fremden Geist. Und mit diesem Geist wollte sie nichts gemein haben.

KAPITEL 22
     
    In der Ganduup-Festung gab es kein Tor. Doch unterhalb einer Klippe an der Küste, eine kurze Bootsfahrt von der Festung entfernt, befand sich ein großes, von den Ganduup bewachtes Tor, das Gaiuper heute benutzte. Damals, als er Elsa hatte laufen lassen, damit sie ihm ‚Bolhins Reisen’ besorgte, hatte er Kamark zu einem anderen Tor geschickt. Eins im Landesinneren, das unter der Aufsicht seiner eigenen Leute stand. Ein paar Tage später war Tegga durch das gleiche Tor geschritten, um ‚Bolhins Reisen’ zu holen, den wichtigsten Schlüssel zum Eingang nach Kundrien. Das war mittlerweile zwei Jahre her, doch immer noch durchfuhr Gaiuper ein freudiger Schauer, wenn er daran dachte, wie er das wertvolle Buch so plötzlich in seinen Händen gehalten hatte. Es zu studieren, mit feurigem Eifer, das war sein Trost gewesen, seine Zerstreuung in den zwei Jahren des Wartens, bis er endlich das Rabenmädchen ergreifen und sich ihr Inneres hatte aneignen können. Nicht mehr und nicht weniger als die Unendlichkeit hatte er erobert und sich einverleibt, dank des Verfahrens, das sich die Antolianer ausgedacht hatten und dessen Geheimnis sie nicht sorgfältig genug bewahrt hatten. Unass hatte die Pläne analysiert und abgewandelt, damit sie Gaiupers Zwecken dienten. Das Beste daran war: außer Unass und Gaiuper wusste niemand, was passiert war. Niemand würde Verdacht schöpfen, denn wer sollte erkennen, welche Kräfte nun in Gaiuper schlummerten, wenn er es niemandem verriet?
    Sie

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