Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)
durchschritten das Tor und gelangten in die vertraute stinkende Grotte. Der Geruch von Fisch war für Gaiuper untrennbar mit den Ganduup verbunden. Ebenso wie der warme Wind, der Sonnenschein und die salzige Luft, die in seinen Vogelaugen brannte und ihn quälte. Immer schmerzten seine Augen, als sei Sand hineingeraten. Jetzt, um die Mittagszeit, blendete das grelle Licht, das sich vielfach auf den Wellen spiegelte. Doch all das, was ihn schon seit Jahren mit Missmut, Ekel und Hass erfüllte, feuerte nun seine heimliche Freude an und machte ihn glücklich.
„ Ihr braucht mich nicht mehr?“, fragte Kamark.
Unass winkte den Weltenführer ungeduldig beiseite.
„ Sieh zu, dass du in zwei Tagen zu unserer Verfügung stehst. Wir treffen uns am anderen Tor.“
„ Wann denn genau?“
„ Das wirst du schon sehen!“, antwortete Unass ungeduldig. „Du hältst dich bereit und wartest auf uns.“
Kamark nickte. Er war zuverlässig. Er redete nicht viel, war leicht zu bestechen und so ängstlich, dass er nie auf die Idee gekommen wäre, Gaiuper zu hintergehen. Gaiuper schätzte ihn. Doch für das allerletzte Stück des Weges musste er ihn opfern. Danach würde er ihn nie wieder brauchen.
„ Morgens oder eher abends?“
Unass öffnete den Mund, um Kamark zurechtzuweisen, doch Gaiuper ergriff vor ihm das Wort.
„ Vor Mittag werden wir nicht dort sein.“
„ Alles klar“, sagte Kamark und rannte die Stufen empor, die zur höher gelegenen Küstenstraße führten. Er konnte nicht schnell genug wegkommen, war er doch froh, Gaiuper und Unass nicht zur Ganduup-Festung begleiten zu müssen. Das konnte Gaiuper gut verstehen. Auch er hasste die weiße Stadt im Meer mit ihren gespenstischen Bewohnern. Dennoch setzte er sich in das Boot, das schon auf ihn und Unass wartete, und ließ sich hinüberrudern.
Gaiuper blickte in die Ferne, über den schaukelnden Horizont hinweg. Ihm fehlten noch ein paar kleine Informationen. Eigentlich nur eine letzte Bestätigung. Wo er sie bekommen könnte, das wusste er: König Nada hatte sich eingehend mit Feuersand beschäftigt, er hielt sich oft am Rand des giftigen Landes auf, in seiner Burg Trotz. Gerade im Moment befand er sich auf dem Weg dorthin und wollte eine Woche dort bleiben. Das hatten Gaiupers Späher berichtet. Die Gelegenheit war günstig, fast konnte es kein Zufall sein, dass das Rabenmädchen ausgerechnet jetzt über seine eigene Grenzenlosigkeit gestolpert und in Gaiupers Netz gegangen war. Nada fühlte sich allzu sicher in Trotz. Nur er wusste, wie man sich in der Nähe der giftigen Dämpfe gesund hielt, alle übrigen Bewohner Sommerhalts mieden das Grenzland. In Trotz gab es keine Schätze, die ein Heer von Soldaten hätte bewachen müssen. Ein paar Diener, eine Hand voll Wächter, mehr Widerstand gab es für Gaiuper nicht zu überwinden. Außer natürlich Nadas persönlichen Widerstand. Doch mit Morawena war das Wundermittel zur Hand, das Nada zum Sprechen bringen würde. Auf diese Weise konnte Gaiuper zweierlei Dinge in Ordnung bringen, die ihm schon lange auf dem Herzen lagen: Erstens würde er den Weg nach Kundrien öffnen und alle anderen Türen hinter sich verschließen. Zweitens würde er sich rächen, bitterlich rächen, indem er Morawena vor ihrem Tod nach allen Regeln der Kunst quälte, seelisch wie körperlich. Nichts anderes hatte sie verdient. Ihren Hochmut und ihren Spott sollte sie bereuen, mit jeder Faser ihres Wesens.
Selig lächelnd stieg Gaiuper aus dem Boot und verbeugte sich andeutungsweise vor der Ganduup-Dienerin, die neben Holanda an der Anlegestelle stand. Da Holanda selbst stumm war, wurde sie stets von einer Dienerin begleitet, die angeblich Holandas Gedanken lesen und aussprechen konnte. Auch wenn Gaiuper wusste, dass die Ganduup spuken und hexen konnte, so glaubte er doch nicht an diesen Hokuspokus. Er war überzeugt davon, dass Holanda genauso sprechen konnte wie er selbst und dass die Ganduup keineswegs des Gedankenlesens fähig waren. Hätten sie ihn sonst so friedlich empfangen? Wüssten sie, was er wusste, dann würde ihn die viel zu junge Ganduup-Dienerin jetzt nicht mit ihrer Piepsstimme und den üblichen langweiligen Fragen quälen.
„ Meine Herrin möchte wissen, wo du dich aufgehalten hast.“
„ Unass und ich haben eine abgelegene Welt aufgesucht und darin okkulte Zutaten gejagt. Soll ich aufzählen, welche?“
Dabei zeigte er auf zwei Kisten, die gerade aus dem Boot geladen wurden. Statt gleich zu antworten und die
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