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Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)

Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)

Titel: Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Kammer
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gezogen wurden, als bestünde er nicht aus Fleisch und Blut, sondern einem Gas, das nur dem Anschein nach fest war. Sich später daran zu erinnern, fiel Elsa schwer. Wenn sie es versuchte, dann sah sie, wie Gaiuper bis zur Unkenntlichkeit auseinander getrieben wurde und dann zerriss. Er wurde zersprengt in die feinsten Teile wie ein farbiger Nebel und nicht mehr als das. Das Loch, das letzte aller Tore, lutschte ihn förmlich von Elsa fort. Sie merkte, wie die schützende Hülle namens Gaiuper, von der das Innerste ihres Selbst umgeben war, dünner und immer dünner wurde. Wäre Gaiuper erst mal aufgesogen, käme die Reihe an sie. Das Loch würde sie schlucken und verschwinden lassen, für immer. Ein Dahinter oder Danach gab es nicht.
    Dieser ganze Prozess vollzog sich innerhalb von Sekunden, falls man im Inneren eines solchen Sturms überhaupt noch von Zeit oder Zeitangaben sprechen durfte. Dennoch befand sich Elsas Geist, während Gaiuper sich rund um sie herum auflöste, in einem sehr wachen Zustand: Auf einmal stand ihr klar vor Augen, welches Ziel die Ganduup schon seit langer Zeit verfolgten. Geister waren sie, nicht mehr lebendig, doch auch nicht tot. Ein Rabe, der gleichzeitig ein Ganduup war, könnte es schaffen, in dieses Tor einzudringen, ohne unterzugehen. Wenn es ihm gelänge, könnte er seinen Geist auf die Urkräfte richten und die Schöpfung rückgängig machen. Sie in ihr Gegenteil verkehren. Sie nach seinem Willen ablaufen lassen. Er könnte absolut werden und gottgleich, und mit ihm würde alles enden und von vorne anfangen, so er denn wollte. Gaiupers Visionen waren nicht der Traum eines Wahnsinnigen gewesen, sondern das Abbild einer tatsächlich existierenden Möglichkeit.
    Es erschreckte Elsa, dass das Ende Wahrheit werden könnte, auch wenn Gaiuper selbst nicht mehr in den Genuss des von ihm herbeigesehnten Weltuntergangs kommen würde. Er verschwand in diesen winzigsten Bruchteilen von Zeit, als wäre er nie dagewesen. Kaum hatten sich seine letzten Krümel von Elsa gelöst, nahm sie wieder Gestalt an, sie konnte gar nicht anders.
    Das war der Zeitpunkt, der unweigerlich zu ihrer Zerstörung führen musste, zumindest dachte sie das. Der Rabe, der den Kern ihres Wesens bildete, sah das anders und handelte entsprechend: In genau dem Augenblick, als Elsa von Gaiuper befreit und dem letzten Tor ausgeliefert war, machte der Rabe einen Sprung durch den ramponierten Zwischenraum. Das war eine heikle und überaus wackelige Angelegenheit, die sich anfühlte, als würde der Vogel durch ein kilometerlanges Blechrohr geschossen, doch es gelang und der Rabe oder vielmehr Elsa landete schließlich auf einem platt gewalzten Boden aus Schnee im Schein einer Straßenlampe. Sie lag auf dem Bauch, Arme und Beine von sich gestreckt, als wäre sie mitten im Fliegen abgestürzt. Sie hörte Jahrmarktsmusik von ferne und sah einzelne Schneeflocken sehr langsam zu Boden fallen. So langsam, wie die Flocken fielen, kam ihr zu Bewusstsein, dass sie am Leben war.
    Kinder lachten in nächster Nähe. Sie kamen angerannt, dick vermummt in Mützen, Schals und flauschigen Anoraks. Als sie Elsa erblickten, die mitten auf der Straße lag, in viel zu dünner Kleidung, blieben sie stehen und starrten sie an.
    „ Ist alles in Ordnung mit Ihnen?“, fragte eine Frau in langem Wintermantel und Hut, die den Kindern gefolgt war.
    „ Danke“, sagte Elsa schwach und war froh, wieder ihre eigene Stimme zu hören. „Ich bin nur ausgerutscht.“
    In dem Moment, da sie es sagte, staunte sie über sich selbst. Vor allem über den kompromisslosen Raben, der in ihr steckte. Er war abgehauen, im richtigsten Bruchteil der wichtigsten Sekunde. Er war von Überlebenswillen durchdrungen und schneller als jeder Gedanke, wenn es darauf ankam. Ihr kam in den Sinn, was Anbar einmal zu ihr gesagt hatte: Dass sie es sich leisten könnte, in das Nichts ihrer eigenen Augen zu fallen, wenn die Dinge anders wären, als sie es waren. Dass sie dann herausfinden könnte, wohin es sie führte oder worin ihr eigentliches Leben bestand. Es war aber beängstigend, an Dinge zu denken, die Anbar mal gesagt hatte. Er konnte tot sein – vielleicht waren sie jetzt alle tot: Morawena, Nada und Anbar. Dieser Gedanke und die frostigen Temperaturen, die in dieser Welt herrschten, brachten Elsa zum Schlottern.
    In der Ferne sah sie den Rummelplatz, von dem die Musik herrührte. Da war ein bunt beleuchtetes Riesenrad und Tannenbäume, die über und über mit bunten

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