Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)
Lichtern besteckt waren. Die Frau mit den Kindern war weitergegangen und in den Schatten verschwunden, die zwischen der Straße und dem Jahrmarkt die Wege verdunkelten. Elsa rappelte sich auf und schlang die Arme um sich, weil ihr so kalt war.
Erinnerungen überfluteten sie. Die Leben, all die Leben, die sie schon gelebt hatte, steckten in ihrem Kopf. Das, was Unass mit ihr angestellt hatte, musste die Grenzen zwischen ihren Leben aufgelöst haben, jedenfalls wusste sie sehr viel. Zu viel eigentlich, denn es war ihr gar nicht möglich, all das anzusehen oder zu ertragen. Sie drückte das Meiste weg, verbannte es aus ihrem Bewusstsein und hielt nur nach den ältesten Erinnerungen Ausschau, die ihr zur Verfügung standen. Dabei stellte sie fest, dass es dunkler wurde, je weiter sie in der Zeit rückwärts zu gehen versuchte. Was vor tausend Jahren mit ihr geschehen war, konnte sie hier und da beleuchten. Doch die Leben, die sie vor fünftausend Jahren gelebt hatte, bildeten ein Einerlei, das sie nicht durchdringen konnte. Finster wurde es da. Dabei hätte sie zu gerne gewusst, wie es ursprünglich angefangen hatte. Wie sie wirklich geboren worden war. Aber das blieb schwarz, ebenso wie der Schnee kalt blieb, auf dem sie saß.
Ohne nachzudenken, denn es war so anstrengend zu denken, nach allem, was ihr widerfahren war, wurde sie ein Rabe. Dem war wesentlich wohler an diesem Winterabend und er flog über die zahlreichen elektrischen Lichter dieser Stadt hinweg und darüber hinaus, bis er einen jener Orte gefunden hatte, von denen seine Seele sich ernährte: Es handelte sich um eine Kirche, die in ein Naturkundemuseum umgewandelt worden war. In Form eines kleinen Tiers gelangte Elsa durch eine Lüftungsluke ins Innere und dort, zwischen ausgestopften Eulen und Bären, die gemeinschaftlich schwarz die nächtliche Stille bevölkerten, fand sie das, was sie brauchte: ein Tor. Gleich neben dem Getränke-Automaten, etwas verkümmert und schmal, hatte sich eine Lücke gehalten, die wahrscheinlich kein Museumsbesucher bemerkte. Elsa ging auf ihren menschlichen Beinen in das Tor hinein, um geblendet von Sonnenlicht zwischen kobaltblauen Dornenbüschen in tiefen, weichen Sand zu treten. Der seltsam metallische Geruch der Luft verriet ihr, dass sie dort war, wo sie sein wollte. In Sommerhalt, am Rand des vergifteten Landes.
Sie schaute in den Himmel, der eine späte Nachmittagsfarbe angenommen hatte: Sein tiefes Blau war von einer tröstlichen Wärme, ein Schimmer von Abendrot hing schon in der Luft. Ein paar Wolkenfetzen, gelb von Feuersands Staub oder der sinkenden Sonne, zogen über Elsa hinweg und lösten sich langsam auf. Sie beobachtete es still und benommen. Dann machte sie sich zu Fuß auf den Weg zur Burg. Sie brauchte die Zeit, die das kostete, um zur Besinnung zu kommen. Sie lebte noch und war befreit von Gaiuper – das war ein Grund zu wahnsinniger Freude, die immer mal wieder in einer heftigen Welle durch Elsa hindurchschwappte. Dann kam wieder die Angst, dass sie in Trotz nur Tote vorfinden würde. Wenn es so wäre, könnte sie das kaum ertragen. Nicht mal vorstellen wollte sie sich das.
Dann endlich ragte die Burg Trotz aus der leeren Landschaft empor, dunkel vor dem abendgelben Sonnenball am Horizont. Das schlichte hohe Haus mit den zwei Türmen, das Elsa heute zum ersten Mal gesehen hatte.
Nein, nicht zum ersten Mal – sie war schon einmal dort gewesen. Früher. Mit Prinz Nada, der damals schon ein kräftiger Riese gewesen war, doch mit geflochtenem Haar, ohne Bart, und einem weniger ausladenden Körperumfang. Sie hatte sich damals sehr klein gegen ihn gefühlt, doch ihn nie gefürchtet. Sie hatten einfache Brettspiele gespielt, dort oben, im Wohnraum der Burg. Angais hatte Milch mit Honig getrunken und in einem lustigen Bett geschlafen, das wie eine riesige Schublade aussah. Sie hatte mit Nadas großen Hunden gespielt und war auf den Esstisch geklettert, um besser aus den Fenstern sehen zu können. Das war ganz am Anfang gewesen, nachdem er sie gefunden hatte. Noch bevor er sie mitgenommen hatte ins Schloss, wo all die feindseligen Menschen gewesen waren.
Elsa konnte sich gut daran erinnern. Sie konnte sich sogar an die Zeit davor erinnern, als sie mit Usido in einem anderen Universum im Wohnwagendorf gelebt hatte. Doch all diese Erinnerungen waren mit Türen versehen, die sie fest zumachen konnte. Sonst hätte sie den Verstand verloren. Da sie nun gewappnet sein musste für die Gegenwart und alles, was
Weitere Kostenlose Bücher