Rabenschwärze: Das Mädchen aus Istland (German Edition)
diesem Morgen war er verlassen. Die Hallen – riesengroße Bretterverschläge – waren geschlossen. Sie lagen unmittelbar neben einem breiten Kanal mit Anlegestelle und davor war ein Platz, über den vor kurzem noch viele Leute gelaufen sein mussten. Denn der Schnee dort war nicht weiß, sondern braun und zertrampelt. Elsa sah sich nach allen Seiten um. Hier irgendwo musste der Umgekippte Eimer sein. Sie fand ihn im Häusermeer auf der anderen Seite des Platzes, ein von Alter geducktes zweistöckiges Fachwerkhaus, an dem ein Eimer baumelte, dessen Henkel nach unten zeigte. Gerade als Elsa versuchte, durch die kleinen Scheiben ins Innere der Gaststube zu gucken, kam kurz die Sonne zwischen den Wolken hervor. Wie ihre Strahlen das Innere der Stube erhellten, sah Elsa, dass auch der Eimer menschenleer war. Das Licht verschwand wieder, doch Elsa wollte nicht so schnell aufgeben. Sie schaute nach, ob die Tür offen war, und tatsächlich, als sie gegen die Tür drückte, gab diese nach. Elsa trat ein, schob einen Vorhang beiseite, der die Tür von der Gaststube trennte, und stand in einem geräumigen, doch düsteren Saal mit niedrigen Holzdecken und sauber geschrubbten Tischen. Hinter der Theke räumte ein Mann mit weißen Haaren Gläser in einen Schrank und kippte zwischendurch den Inhalt mehrerer Flaschen in eine große Flasche.
„ Wie geht’s?“, fragte der Mann.
Er hatte nur kurz aufgeschaut, als sie hereinkam, und sich dann wieder seinen Gläsern zugewandt. Sein Tonfall war freundlich. Erleichtert trat Elsa näher.
„ Entschuldigung“, sagte sie, „ich suche nach Ulissa.“
„ Natürlich tust du das“, sagte der Mann, „du bist Amandis, ihre Schwester.“
Elsa schaute in die Augen des Mannes und wunderte sich darüber, wie sehr sie diese Augen an Diewans Augen erinnerten. Das Gefühl, jemandem gegenüber zu stehen, den sie tatsächlich kannte, war so groß, dass Elsa nichts sagen und nichts denken konnte. Sie starrte nur den alten Mann hinter der Theke an und suchte nach einem Anhaltspunkt.
„ Ulissa ist nicht da“, sagte der Mann. „Sie ging im Sommer fort und hat sich seitdem nicht mehr blicken lassen.“
„ Ach ja“, sagte Elsa, immer noch wie gelähmt von dem Gefühl, dass sie diesen Mann irgendwoher kannte.
„ Ja. Nikodemia ist wütend auf sie, sie hat ihn einfach sitzen lassen. Hat sich nicht mal verabschiedet. Willst du was trinken?“
Elsa nickte. Sie hatte keine Ahnung, wer Nikodemia war. Zurückhaltend, wie es Amandis’ Art war, schob sie einen Stuhl beiseite und nahm ihren Umhang ab, um ihn ordentlich über die Lehne zu hängen. Dann kam sie an die Theke zurück und setzte sich dort auf einen der Hocker.
„ Kennst du einen Händler namens Diewan?“, fragte sie und sah dem Mann zu, wie er heißes Wasser auf graubraunes Pulver kippte.
„ Nicht dass ich wüsste.“
„ Du siehst ihm sehr ähnlich“, sagte Elsa. „Ihr könntet Brüder sein.“
„ Liegt vielleicht daran, dass wir beide Istrianer sind.“
Er rührte das Getränk um und goss etwas Hellbraunes, Cremiges hinein.
„ Woher weißt du, dass er Istrianer ist?“
„ Ist ein Name aus Istrian, der Name Diewan. So wie Carlos. Wir Istrianer haben viele Falten im Gesicht, von der Sonne. Aber unsere Augen leuchten auch, weil sie es gewohnt sind, Licht zu trinken.“
Er schob Elsa die Tasse hin und sie schnupperte daran. Das Ganze roch schärfer als Nokkakau und süßer. Sie nippte daran und mochte es.
„ Wir hatten gedacht, du könntest uns sagen, wo Ulissa steckt“, sagte der Mann. „Sie ist doch mit dir weggelaufen, nachdem du auf diese Schule gegangen bist. Wie hieß sie noch, die Schule?“
„ Bellon“, sagte Elsa.
„ Ja, genau. Bellon. Sie hat uns erzählt, dass sie dich dort abgeholt hat und dass sie regelmäßig Briefe für dich nach Bellon bringt, um sie von dort abzuschicken, damit eure große Schwester keinen Verdacht schöpft.“
„ Das Schuljahr ist um und ich bin wieder da.“
„ Du weißt nicht, wo Ulissa ist?“
„ Nein.“
Carlos war mit den Gläsern fertig und schloss den Schrank. In die große Schnapsflasche steckt er einen Korken. Ein Junge kam aus dem Hinterzimmer. Er mochte um die fünfzehn, sechzehn Jahre alt sein, hatte schwarze Haare und ebenso pechschwarze Augen. Das Hemd hing ihm aus der Hose, richtig zugeknöpft war es auch nicht. In seinem Gesicht wuchs der erste, dunkle Bartflaum. Als er Amandis bemerkte, blieb er stehen und sah sie finster an.
„ Wo kommst du denn auf
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